BEISSE (NICHT) DIE HAND, DIE DICH FÜTTERT
Ein Appell zur Entrümpelung unseres Sprichwörter-Repertoires im Kontext von BLM
Was verraten Sprichwörter über die Menschen, die sie benutzen? Was erzählen „Volksweisheiten“ über das Volk, in dem sie sich etabliert haben? Und welche Wirkung entfalten diese „geflügelten Worte“ in der Gegenwart?
Wenn Sprache Macht hat, dann sind auch Sprichwörter mächtig. Teilweise seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergetragen, spiegeln Sprichwörter Moral-Vorstellungen, Traditionen und kollektive Erfahrungen der Gesellschaft wider. Sie sind ein fester Bestandteil unserer Alltagssprache, auch wenn sie oft arglos daher gesagt werden und keinen universellen Geltungsanspruch haben. Sprichwörter und Redewendungen einer Gesellschaft üben - bewusst oder unbewusst - Einfluss auf das Denken und Handeln ihrer Mitglieder. Grund genug, unser Repertoire an „Volksweisheiten“ infrage zu stellen und deren Wirkweisen im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse (BLM!) zu prüfen.
„Schlafende Hunde soll man nicht wecken“
Im Kern rät dieser Ausspruch, man solle abwarten, Tee trinken und hoffen, dass die besagten Hunde (die symbolisch für latente Probleme oder Missstände stehen) ewig weiter schlummern. Ein Sprichwort also, das die Ignoranz feiert und davon ausgeht, dass Probleme am besten gelöst werden, indem man so tut, als existierten sie nicht.
Genau das hat ein Großteil unserer Gesellschaft viel zu lange getan, als es um den strukturellen, institutionellen und alltäglichen Rassismus in Deutschland ging. Dabei sind es vor allem weiße Menschen, die sich nicht mit dem bestehenden Rassismusproblem konfrontieren wollen. Die Begründung dafür findet sich in dem weißen Privileg, Probleme als latent bzw. „schlafend“ zu verkennen, die für nicht-Weiße Menschen jedoch akut und dringlich sind. Eine Gesellschaft muss sich ihrer Probleme bewusst werden. Rassismus ist eines davon. Sexismus ein anderes. Auch Klassismus bleibt eines. Anstatt schlafende Hunde schlafen zu lassen, sollten wir diese Probleme und ihre Auswirkungen aktiv suchen und bekämpfen. Und zwar in Solidarität mit denen, die am unmittelbarsten von ihnen betroffen sind.
„Wer A sagt, muss auch B sagen“
Dass auf Worte Taten folgen müssen, ist schon klar. Wer aber A sagt und später erkennt, dass das Gesagte falsch war, soll bitte nicht B sagen. Es ist nichts Verwerflichen daran, einmal Gesagtes zurück zu nehmen, im Gegenteil. Verwerflich ist, ausgehend von einer falschen Überlegenheitsannahme ein System zu erschaffen (und aufrecht zu erhalten!), das auf Diskriminierung und Unterdrückung basiert. Im Hinblick auf BLM ist es notwendig, dass weiße Menschen rassistische Denkmuster verlernen und Verantwortung dafür übernehmen, diese Muster bis in ihre Anfänge zu dekonstruieren. Rassismus zu verlernen, bedeutet auch, dass Geschichte neu gelernt und anders gelehrt werden muss. Sonst bleibt sie weiße Geschichtsschreibung. Geht es zum Beispiel um Kolonialgeschichte, greifen Wissenschaftler bis heute häufig auf die schriftlichen Überlieferungen weißer Kolonialherren und Missionare zurück. Es geht also nicht zwingend immer darum, nach A auch B zu sagen, sondern A(nfänge) selbstkritisch aufzuarbeiten.
„Alle Wege führen nach Rom“
Manche Wege führen nicht nach Rom, sondern schlichtweg ins Verderben. Die Redewendung stammt aus der Zeit um 600 v. Chr., in der Rom das politische Zentrum im Mittelmeerraum war. Während in der Antike also tatsächlich die meisten Wege, zumindest kartographisch, nach Rom führten, schreiben wir heute das Jahr 2020. Wir wissen, dass Rom (und auch kein anderer Ort) nicht der Nabel der Welt ist, und die Annahme, dass jede*r sein Ziel früher oder später schon irgendwie erreichen wird, ist irreführend. Sie suggeriert, dass es eigentlich gleichgültig ist, welchen Pfad ich wähle. Dabei ist es alles andere als egal, ob ich links oder rechts gehe. Welchen Weg Menschen einschlagen hat Einfluss darauf, wo sie schließlich landen. Ob Rom oder ein anderes (nicht geographisches) Ziel: die Richtung ist wichtig. Verschiedene Wege führen zu verschiedenen Zielen.
„Einmal ist keinmal“
Einmal ist nicht keinmal. Einmal ist ein Mal. Ein Mal den Mund aufmachen, ein Mal das Richtige tun, ein Mal hin- und nicht wegschauen - ein einziges Mal kann große Wirkung entfalten.
Abgesehen davon spielt die stupide „Einmal ist keinmal“-Mentalität der gefährlichen Strategie in die Hände, rassistische Übergriffe als Einzelfälle darzustellen. Betrachtet man Deutschland als „Land der Einzeltäter“, marginalisiert man den strukturellen Rassismus, der dahinter steht. In den USA, wo rassistische Polizeigewalt an der Tagesordnung ist, versuchten Polizeioffiziere die zahllosen Morde an Schwarzen Menschen als „A few bad apples“ abzutun. Sinngemäß zielte auch diese Redewendung darauf ab, die Morde als
Einzelfälle und die Täter als Einzeltäter darzustellen. Aktivist*innen twitterten daraufhin „This isn’t a few bad apples. The soil is rotten“: Der Fehler liegt im System, und zwar in seinen Anfängen. In einem rassistischen System ist rassistische Gewalt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Einmal ist nicht keinmal, sondern ein Mal zu viel.
„Beiße nicht in die Hand, die dich füttert.“
Die Hand, die dich füttert, ist manchmal dieselbe Hand, die dich ohrfeigt. Die Hand, die dich füttert, gehört manchmal zu dem Arm, der dich unterdrückt. Nicht nur im kapitalistischen System (da aber zweifelsohne), sondern auch innerhalb von dysfunktionalen Beziehungen, Freundschaften oder Familienstrukturen. Wo strukturelle Abhängigkeiten vorhanden sind, besteht auch die Gefahr, dass diese Macht missbraucht wird. Die Forderung, sich nicht gegen das System zu wehren, das einen unterdrückt, ist eine Form von Machtmissbrauch. Jede Form von politischem Aktivismus lebt von dem Mut, sich gegen Repression zu wehren. Nur wer auch die Hand beißt, die ihn/sie füttert, kann den Status Quo zu verändern.
„Wes’ Brot ich ess', des’ Lied ich sing“
Wie der Ausspruch „Beiße nicht in die Hand, die dich füttert“ ist auch diese Formel ein Narrativ der Unterdrückung. Während das vorige Beispiel vor allem dazu dient, Menschen mundtot zu machen und Herrschaftsstrukturen zu stabilisieren, geht „Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing’“ noch einen Schritt weiter. Das Sprichwort verlangt nicht nur, Strukturen und Abhängigkeiten als Tatsachen hinzunehmen, sondern fordert zudem, innerhalb dieser Fremdbeherrschtheit die Lieder der Unterdrücker*innen zu singen. Ihre Sprachen zu sprechen. Ihre Werte zu übernehmen. Auch in der Kolonialzeit zwangen europäische Imperalisten die kolonisierten Völker dazu, ihre Sprachen zu sprechen, zum Teil sogar, ihre Nationalhymnen zu singen. Die Forderung ist heute wie damals unerhört und spielt offensichtlich immer denen in die Hände, die von den gegebenen Machtverhältnissen profitieren.
Über die Verschränkungen von Sprache, Macht und Diskriminierung wurde in den letzten Jahren einiges geschrieben. Klar ist: veraltete Sprache reproduziert häufige alte Strukturen und hält damit strukturelle Ungerechtigkeiten am Leben. Wollen wir eine gerechtere Gesellschaft, brauchen wir also eine gerechtere Sprache. Neben der Notwendigkeit, Sexismus und Rassismus aus unserer Sprache zu eliminieren lohnt es sich darum auch, unser Repertoire von Sprichwörtern zu entrümpeln. Dafür müssen wir bereit sein, auch an den Ästen zu sägen, auf denen wir sitzen - wenn der Baum, auf dessen Ast wir sitzen, morsch ist. Die hier genannten „Volksweisheiten“, die die Geschichte uns vererbt hat, sind bei näherem Hinsehen eher schlechte als rechte Ratgeber, im alltäglichen und im politischen Sinne. Anstatt zu Vernunft, Verantwortung und Solidarität aufzurufen, transportieren sie system-protektorische Absichten und untersagen Widerstand gegen den Status Quo.
Abschließend bleibt nichts zu sagen als: Weckt schlafende Hunde! Sagt nur B, wenn A richtiggestellt wurde! Verschiedene Wege führen an verschiedene Orte - Choose wisely! Denn einmal ist nicht keinmal! Beißt die Hände, die Euch füttern - und singt Eure eigenen Lieder!
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