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BERICHT VON DEN GRENZEN

Als wir in der neuen Welt aus dem Flugzeug stiegen, erkannte ich, dass meine Reise keineswegs beendet war, sondern erst begonnen hatte.

ABSCHIED

Wir fuhren die große Straße entlang, die zum Flughafen führt. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mich von Herat verabschieden musste, wahrscheinlich für immer. Die sommerlichen Sonnenstrahlen leuchteten durch die großen Pappeln, die schon immer entlang dieser Straße gestanden hatten und zu dieser Stadt gehörten wie ich, die diese Bäume, dieses Licht und diese Stadt so sehr liebte. Der Fahrer des Vans, der uns zum Flughafen brachte, begann zu reden: „Es ist unglaublich, wie schnell sie die Stadt übernommen haben. Wer hätte das gedacht. Seien Sie vorsichtig, mein Herr, wenn Sie in Kabul ankommen. Es heißt, dass sie dort härter durchgreifen als bei uns.“ Mein Vater, der wie wir alle in diesen Tagen, nicht wusste, was nun mit uns geschehen würde, und keinem wirklich trauen konnte, nickte nur kommentarlos und drehte seinen Kopf in Richtung Straße. Ich sah, wie eine Träne über sein Gesicht rollte.

Drei Tage zuvor hatten die Taliban Herat eingenommen. Ich erfuhr davon im Büro der Hilfsorganisation, für die ich arbeitete. Mir war bewusst, was es für mich und meine Familie bedeuten würde, wenn sie anfingen, die Menschen zu suchen, die für „Kafirs“ (die Ungläubigen), wie sie die Ausländer nannten, gearbeitet hatten. Meine Vorgesetzte, die Amerikanerin, sagte mir, ich solle so schnell wie möglich ein SIV beantragen, ein spezielles Visum für ehemalige Ortskräfte, mit dem meine Familie und ich von den US-Amerikaner*innen evakuiert werden könnten. Am gleichen Tag erhielt ich die Antwort auf meine E-Mail, sie versprachen, unsere gesamte Familie zu evakuieren. Wir mussten nur nach Kabul und dort zum militärischen Teil des Flughafens gelangen. Es war der letzte Flug nach Kabul, bevor die Verbindungen eingestellt wurden.


KABUL

In der Hauptstadt waren alle Menschen Getriebene, bereit zur Flucht. In den Gesichtern sah man die Angst und Hoffnungslosigkeit. Eine Schar von Vertriebenen aus den Provinzen hatte ein Zeltlager im Parke-Shahre-Naw (Stadtpark) aufgeschlagen.

Die Ankündigung, dass Ortskräfte wie Dolmetscher* innen, Mitarbeiter*innen von Botschaften und NGOs durch die Amerikaner evakuiert werden würden, hatte auch vielen Menschen, die nicht diesen Gruppen angehörten und keine Dokumente besaßen, Hoffnung gemacht, dieser Hölle entkommen zu können. Gerüchte waren im Umlauf, dass die Amerikaner jeden mitnähmen, der es zum Flughafen schaffe.

Nachdem wir eine Nacht bei Verwandten in Kabul verbracht hatten, fuhren wir in der Früh mit einem Taxi zum Flughafen. Wir gelangten an einen der Checkpoints der Taliban. Da standen viele von ihnen, alle bewaffnet, mit langen Bärten und ihrer eigenen Kleidung, an der
man sie auf Anhieb erkennen kann. „Wohin?“, fragte einer von ihnen. „Zum Flughafen“, erwiderte mein Vater. „Nur Ausländer!“, brüllte der Talib. Mein Vater zeigte ihm das Laissez-Passer, was den anderen dazu veranlasste, ihn mit noch lauterer Stimme erneut anzuschreien: „Verschwinde, du Verräter, und geh zu deinen ungläubigen Herren, die dich gefüttert haben. Wir sind froh, dass solche Hunde wie du unser Land verlassen. Möge Allah euch verdammen!“ Er musste uns passieren lassen.

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ABBEY GATE


Wir wurden instruiert, zum East Gate zu kommen, einem der Eingänge, die zum militärischen Teil des Flughafens führen. Mein Vater, meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester und ich standen in einer Menschenmenge von Tausenden, die versuchten, Einlass zu bekommen. Kinder riefen verzweifelt nach ihren Müttern, Männer suchten ihre Frauen, Frauen ihre Kinder. Menschen starben, weil sie in der Menge erstickten oder zertreten wurden. Die neuen Machthaber standen auf einer Mauer und schlugen mit Gewehrkolben und Schläuchen auf die Menschen ein, um sie zu vertreiben. Sie feuerten Warnschüsse in die Luft. War man aber einmal im Gemenge, ging es weder vorwärts noch rückwärts. Auf der anderen Seite der Mauer standen die US-Amerikaner*innen.

48 Stunden verbrachten wir am Flughafen. Es bot sich noch nicht einmal die Chance, unsere Papiere den Soldaten der US Army zu zeigen, denn jeder wurde zurückgeschlagen. Wir hatten von jemanden erfahren, dass ein Mitarbeiter des Flughafens gegen Geldzahlung einzelne Familien zu bestimmten Zeiten durchschleusen könne. Nachdem alle unsere Versuche, die Mauer zu passieren, gescheitert waren, mussten wir diesen Mann finden. Er führte uns schließlich um 3 Uhr nachts über geheime Wege, wie er sie nannte, zum Abbey Gate. Dort befanden sich auch andere Menschen, die Einlass suchten, und auch hier hatten die Taliban einen Checkpoint. Nach einigen Schikanen konnten wir dann endlich passieren, um zum Checkpoint der US Army zu gelangen. Als wir Afghanistan in einem Militärflugzeug der Amerikaner verließen, empfand ich Erleichterung, da unser Leben außer Gefahr war. Doch sie war gepaart mit einer tiefen Traurigkeit über den Verlust eines anderen Lebens. Wir hatten unser Zuhause verloren.


DOHA

Mitten in der Nacht erreichten wir den Flughafen Doha und wurden zu einem Flugzeughangar geschafft, in dem Tausende Menschen untergebracht waren. Wir bekamen Wasser und etwas zu essen, Feldbetten und Schlafsäcke. Vor lauter Erschöpfung schlief ich sofort ein. Bei Tagesanbruch erhitzte sich der Hangar in der brennenden Sonne Qatars so sehr, dass der Aufenthalt unerträglich wurde. Wir wussten nicht, wie weiter mit uns verfahren werden würde. Es gab Gerüchte, nach denen sie uns nicht in die USA bringen würden, sondern irgendwo nach Afrika oder in einen der Balkanstaaten. Sollte es so sein, dachte ich mir, müssten wir uns unserem Schicksal ergeben. Am dritten Tag kamen amerikanische Beamte auf uns zu und teilten uns mit, dass wir alle nach Deutschland weiterreisen und dort auf einem Luftstützpunkt der Amerikaner untergebracht werden würden. Ich war aufgrund meiner guten Englischkenntnisse in diesen Tagen zu einer Art Dolmetscherin geworden und half den US-Amerikaner*innen, mit den Menschen zu kommunizieren.

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RAMSTEIN


Alle Menschen aus dem Hangar in Doha wurden nach Ramstein gebracht, um Platz zu schaffen für die nachkommenden Evakuierten aus Kabul.

In Ramstein war das US-amerikanische Militär für uns zuständig. In einer großen, überwältigenden Aktion sorgte es innerhalb kürzester Zeit dafür, dass Tausende Evakuierte aus Afghanistan untergebracht wurden, über Lebensmittel und ausreichend Sanitäranlagen verfügten.

Aber bei so vielen Menschen an einem Ort kann es durchaus auch zu Schwierigkeiten kommen. Wir Afghanen sind kein homogenes Volk, es herrschen immense kulturelle Unterschiede und eine Vielzahl verschiedener Lebensweisen. Das galt auch für die evakuierten Afghanen in Ramstein. Unter ihnen befanden sich Mitarbeiter von Botschaften und NGOs, die entweder aus Kabul oder anderen Großstädten stammten. Ebenfalls stark vertreten waren Angehörige der Afghanischen Nationalarmee, die den Amerikanern bei militärischen Aktionen geholfen hatten. Diese Menschen und deren Familien stammten zumeist aus sehr abgelegenen Provinzen, deren Lebensumstände in einem enormen Kontrast zu den Umständen in den Städten standen. Diese Diskrepanzen führten zu Konflikten.

Daher beschlossen wir, unter den Evakuierten Vertreter* innen zu wählen, die täglich mit den Amerikanern kommunizieren sollten; ich war eine dieser Personen. Ich musste laut sein, damit meine Anliegen gehört und berücksichtigt wurden. Gemeinsam mit den anderen Frauen, die ebenfalls in diesem Rat waren, kämpfte ich zudem täglich mit Sexismen und Rassismen. Unter den Bewohner*innen des Camps gab es mehrere Fälle von meist verbalen sexuellen Übergriffen gegen alleinstehende Frauen. Auch die verschiedenen Rassismen kamen zum Vorschein. Die unterschiedlichen Ethnien verhielten sich untereinander
missgünstig, unter den Männern kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen.

Zudem verstärkte die Unsicherheit über die Weiterreise die Konfliktbereitschaft der Menschen. Zunächst wurde uns gesagt, dass wir nicht mehr als ein paar Tage im Camp bleiben würden, aber aufgrund eines Masern- Ausbruchs wurden sämtliche Flüge von Ramstein aus eingestellt. Je mehr Tage vergingen, desto unruhiger wurden die Menschen und langsam herrschte Weltuntergangsstimmung. Beschwerden wurden laut über das schlechte Essen, die ungenügenden hygienischen Zustände und den Mangel an warmer Kleidung. Viele von uns hatten kein richtiges Gepäck aus Afghanistan mitnehmen können, unsere Kleidung war zu spärlich für die deutschen Wetterverhältnissen. Bei der Kleiderausgabe, die ausschließlich über Spenden und Freiwillige organisiert wurde, kam es genauso regelmäßig zu Konflikten wie bei der Essensausgabe.

Täglich verhandelten wir mit den US-amerikanischen Verantwortlichen darüber, wie unsere Situation verbessert werden könnte. Nach wochenlangen Gesprächen bekamen wir eine Schule für die Kinder und eine für die Erwachsenen, in denen wir auf das Leben in den USA vorbereitet werden sollten. Die Freiwilligen hatten einen Bazar mit Kleiderausgabe eingerichtet, die Qualität des Essens wurde besser. Das Camp verwandelte sich langsam in eine Kleinstadt, die zwar immer noch mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, in der aber weniger Unzufriedenheit herrschte als am Anfang. Wir schlossen Freundschaften – untereinander, mit den Amerikanern und den freiwilligen Helfern.

Unser aller größter Wunsch war es jedoch, aus dieser Situation herauszukommen, und in unserer neuen Heimat ein neues Leben zu beginnen. Als die US-Amerikaner uns dann nach sechs Wochen in Ramstein mitteilten, dass wir in ein paar Tagen fliegen würden, waren wir alle in großer Aufregung. Nun, dachten wir, würde unsere Reise ein Ende haben und wir würden endlich ankommen.

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