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DAS LEBEN UND SEIN PREIS

Wie sollten wir die Gegenwart bewerten?

Wir neigen dazu, die Lehren aus einer Krise allzu früh zu ziehen, nämlich dann, wenn sie uns noch fest im Griff hat. Das erschwert diesen Prozess, denn ohne die Perspektive des Nachhineins erscheint die jeweilige Situation chaotisch und ohne klar umrissene Form. Nichtsdestotrotz müssen wir uns mehr als anderthalb Jahre nach dem Beginn einer weltweiten, durch ein Virus ausgelösten Krise fragen, was diese über uns offenbart. Manchmal zerstören Krisen bestehende Strukturen und manchmal zeigen sie die Strukturen und Annahmen auf, die zuvor unsichtbar und implizit in unsere Leben eingewoben waren.

Während sie Eichmann in Jerusalem schrieb, benutzte Hannah Arendt eine Analysemethode, die wir vielleicht als anti-historisch bezeichnen würden: Sie weigerte sich, die Gegenwart mithilfe von Analogien aus der Vergangenheit zu verstehen; sie wies bereits vielfach benutzte und alt gewordene philosophische Kategorien zurück, um etwas vollkommen Neues begreifen zu können. Das Buch war der Auftakt zu einer größeren Fragestellung, die sie dann bis zum Ende ihres Lebens untersuchte: Wie sollten wir die Gegenwart bewerten? Ihre Denkrichtung stimmte dabei Alexis de Tocqueville in seiner Aussage zu, dass in der Krise der Geist im Dunkeln irrt. Die Coronakrise ist etwas noch nie Dagewesenes und eben diese radikale Neuheit in der jüngeren Geschichte verleiht ihr die Fähigkeit, einige der zentralen Aspekte der Gegenwart zu beleuchten.

 

Der Staat als rettende Instanz

Die Coronakrise ist einzigartig, aber zweifelsohne ist ihr bemerkenswertester Aspekt die Tatsache, dass weltweit fast fünf Milliarden Menschen (zeitweise) ihre Mobilität, ihre Arbeit und ihre alltäglichen sozialen Gewohnheiten aufgeben mussten. Die Tatsache, dass Milliarden von Menschen an ihre Wohnungen gebunden waren, machte die Krise zu einem Ereignis, das tatsächlich den ganzen Planeten betraf – das erste seiner Art, erlebt als eine gemeinsame Katastrophe. Lockdowns auf nationaler und vor allem auf weltweiter Ebene waren ein echtes Novum.[1]

Dabei muss man daran erinnern, dass während der Spanischen Grippe, die ebenfalls eine Pandemie darstellte, keine landesweiten, geschweige denn weltweiten Lockdowns angeordnet wurden. Zwar verhängten viele Städte Auflagenwie Kinoschließungen [2], die das Zusammenkommen großer Menschenmengen verhindern sollten, aber ein Stillstand, wie er die Coronakrise in spektakulärer Weise charakterisieren sollte, blieb damals aus. Während der jüngsten Ebola-Ausbrüche in den Jahren 2014 und 2015 wurde lediglich in Sierra Leone ein landesweiter Lockdown angeordnet und selbst der bestand nur zu zwei Anlässen und dauerte jeweils drei Tage.[3] Darüber hinaus wurden die Lockdowns mit einem seltenen Maß an Homogenität gehandhabt. Es war zustande gekommen durch Expert*innenwissen, kontinuierliche Medienberichterstattung, die Sozialen Medien und politische Gesamtkonzepte, die sich auffallend ähnelten, obwohl sie sich lokal darin unterschieden, wie sehr sie Freiheiten beschränkten, Tests und Isolationen verlangten, und wie diejenigen bestraft wurden, die sich weigerten, den Auflagen zu entsprechen.

Mit Ausnahme einiger asiatischer Länder waren die meisten Nationen allerdings außerordentlich unvorbereitet und es fehlte ihnen an grundlegender medizinischer Ausstattung, um mit der Pandemie umzugehen. (Die Globalisierung und Delokalisierung der Wirtschaft hatten dafür gesorgt, dass die meisten Länder in ihrer medizinische Ausstattung von China abhängig waren.) Zumindest in den ersten Monaten mangelte es den Regierungen wie auch den Expert*innen an entscheidenden Informationen zum Virus. Erst viele Wochen nach dem Beginn der Pandemie und dem ersten Lockdown beschlossen zum Beispiel die französischen Behörden, mit ihren Aussagen zurückzurudern, der Gebrauch von Masken sei nutzlos. Auch gab es keine verlässlichen Informationen über die realen Prozentzahlen der durch COVID-19 verursachten Todesfälle. Viele Leute behaupteten einige Zeit lang, dass die Todeszahlen kaum gravierender seien als bei der Grippe. Doch trotz dieses Mangels an eindeutigen Informationen gaben Milliarden von Menschen die grundlegendsten Aspekte ihrer persönlichen Freiheit auf und akzeptierten, dass sie wochenlang in ihren Wohnungen eingesperrt waren (sofern sie eine hatten) – eine in der Menschheitsgeschichte beispiellose Tatsache.

Man könnte das als die schlichte Bestätigung der Hobbes’schen Ansicht begreifen, die Angst vor dem Tod sei das mächtigste politische Verlangen – und dass wir immer dazu bereit sein werden, unsere Freiheit zugunsten unserer Sicherheit aufzugeben.

Wenn wir die aktuelle Krise jedoch mit der Hongkonger Grippepandemie vergleichen, die in den Jahren 1968 und 1969 – also vor nicht allzu langer Zeit – Millionen von Menschen das Leben kostete und keinen landesweiten Lockdown auslöste, sollte uns diese neue Situation zu denken geben. Sie deutet nicht nur auf ein ungewöhnlich hohes Level an Fügsamkeit innerhalb der Bevölkerung hin, sondern verweist auch auf eine grundlegend veränderte Beziehung zwischen dem Staat und seinen Bürger*innen. Sie fußt auf einem neuen Verständnis von etwas, was man Gesundheitspakt nennen könnte. 

 

Der Gesundheitspakt zwischen dem Staat und seinen Bürger*innen

Möglicherweise liegt der Ursprung dieser neuen Vereinbarung in der Gründung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahre 1946. Deren Berufung wurde in einer Charta erklärt, die den Tonfall eines Verfassungsentwurfs anschlägt: Die an dieser Verfassung beteiligten Staaten erklären in Übereinstimmung mit der Satzung der Vereinten Nationen, dass die folgenden Grundsätze für das Glück aller Völker, für ihre harmonischen Beziehungen und ihre Sicherheit grundlegend sind: Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. Der Besitz des bestmöglichen Gesundheitszustandes bildet eines der Grundrechte jedes menschlichen Wesens, ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung. Die Gesundheit aller Völker ist eine Grundbedingung für den Weltfrieden und die Sicherheit; sie hängt von der engsten Zusammenarbeit der Einzelnen und der Staaten ab. [4,19]

Diese neue internationale Satzung tat nichts Geringeres, als Gesundheit unter die größere und moralisch unwiderstehliche Kategorie der Menschenrechte zu fassen und sie damit als ebenso grundlegend zu erklären wie die Freiheit. In diesem Zuge wurde auch die Aufgabe des Staates verändert, welchem nun die  Aufgabe anvertraut wurde, den Schutz der Gesundheit und das Wohlergehen seiner Bürger*innen sicherzustellen. Ein kurzer Blick auf die gesundheitsbezogenen Ausgaben von Ländern wie Australien, Österreich, den USA, Kanada, dem Vereinigten Königreich und Deutschland bestätigt ab den 1970er-Jahren eine massive Verlagerung: Weltweit nahmen die öffentlichen und privaten Gesundheitsausgaben zu, womit die Satzung der WHO de facto angenommen und der Zugang zur Gesundheitsversorgung zum Grundrecht wurde. Das veränderte wiederum die Beziehung zwischen Bürger*innen und Staat, wobei letzterer zunehmend verantwortlich zeichnete für die Optimierung der Gesundheit der Bürger*innen. Zwischen 1970 und 2019 wuchsen die Regierungsausgaben im Gesundheitsbereich drastisch. Prozentual zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrachtet, ergibt sich ein klarer Trend: Frankreich kam von 3,894 Prozent im Jahr 1970 auf 9,366 Prozent, Deutschland von 4,08 Prozent auf 9,905 Prozent und die USA von 2,323 Prozent auf 14,379 Prozent.[5]

Um die Bedeutung dieses Anstieges besser bewerten zu können, muss man wissen, dass sich die Gesamtausgaben der US-amerikanischen Regierung in diesem Zeitraum nur von 34,24 auf 38,52 Prozent des BIP erhöhten. Dieser Anstieg, wie deutlich er auch immer sein mag, fiel also wesentlich weniger extrem aus als der der Gesundheitsausgaben. In Frankreich und Deutschland zeigt sich ein ähnliches Bild: Von 1995 an wurde etwa der gleiche Anteil des BIP ausgegeben (in Frankreich 54,81 Prozent, in Deutschland 55,12 Prozent). Im Jahr 2019 hatte sich diese Zahl in Frankreich leicht auf 55,86 Prozent erhöht, während sie in Deutschland auf 44,41 Prozent des BIP gesunken war. Umso bemerkenswerter ist der stete Anstieg der Gesundheitsausgaben um ein Vielfaches. Aufgrund des medizinischen Fortschrittes, neuer bildgebender Technologien und lebensverlängernder Medikamente wachsen die allgemeinen Erwartungen an Gesundheit und ein langes Leben. Dabei ist es der Staat, dem man die Aufgabe anvertraut hat, die Gesundheit der Bürger*innen zu schützen und zu verbessern. [6]

Besagte finanziellen Aufwendungen wurden von einer kulturellen Revolution begleitet. Oder wie der Soziologe Peter Conrad es ausdrückt: Die Bedeutung der Medizin und medizinischer Konzepte hat in den vergangenen fünfzig Jahren enorm zugenommen.[7]

Die Auswirkungen dieser Revolution betreffen nicht nur die Aufgabe des Staates, sich im Krankheitsfall um die Gesundheit seiner Bürger*innen zu kümmern bzw. sie im Gesundheitsfall vor Krankheit zu schützen (durch Vorbeugung, Erkennung und Aufklärung). Sie haben auch die Essgewohnheiten und den Umgang mit Sport verändert. Der Einfluss der Medizin zeigt sich aber ebenso in ihrer zunehmenden symbolischen Macht, verschiedene soziale Phänomene als psychische Abweichung bzw. Normalität zu definieren und zu markieren. Schließlich – und das ist vielleicht das Auffälligste – findet eine unermüdliche Bekräftigung des Wertes des Lebens statt, und zwar über sehr hohe Ausgaben für die Pflege alter Menschen. Es hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass der Staat nun nicht nur die Sicherheit seiner Bürger*innen, sondern auch deren Gesundheit zu gewährleisten habe. (Selbst US-amerikanische Bürger*innen erwarten nun, dass der Bundesstaat die aktuelle Krise bewältigt.) Dies hat dazu geführt, dass ein unverhältnismäßig hoher Anteil der Mittel in die Pflege alter Menschen, in die Palliativmedizin und lebensverlängernden Maßnahmen fließt. Das Leben selbst ist zu einem Wert geworden, der von den immer größer werdenden medizinischen Einrichtungen implizit bekräftigt und aufrechterhalten wird.

Der weltweite Einsatz von Lockdowns ist Ausdruck genau dieser veränderten Rolle, die die Gesundheit in der Beziehung zwischen Bürger*innen und Staat spielt. Die Corona-Pandemie war das erste weltweite Ereignis, bei dem Ärzt*innen, die Pharmaindustrie, Biolog*innen, und Medizinjournalist*innen eine Schlüsselrolle in der Bewältigung einer weltweiten Krise einnahmen und manchmal sogar inmitten der Weltöffentlichkeit standen (Anthony Fauci, eine der Führungskräfte der unter Trump einberufenen Coronavirus-Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Viruses, tauchte regelmäßig in den europäischen und israelischen Nachrichten auf). Das liegt daran, weil der Staat zum Ort der Verwaltung und Vermittlung sowohl der Gesundheit als auch der Körper der Bürger*innen wurde.

Für Michel Foucault machte die Verwaltung der Körper der Bürger*innen bekanntlich den modernen Staat aus (er nannte das Biopolitik). Dessen Aufgabe war es, gesunde Körper für den Kapitalismus zu erschaffen. Die Coronakrise hat wie keine andere Krise zuvor betont, dass eine gesunde Arbeitnehmer*innenschaft der unsichtbare Boden ist, auf dem die gigantischen Räder der Wirtschaft stehen. Nach Jahrzehnten, in denen unendliches Wirtschaftswachstum als unausweichliche Bedingung menschlicher Existenz erschien und Außen- wie Innenpolitik bestimmte, trat durch die Corona-Pandemie die gesundheitliche Dimension der politischen und wirtschaftlichen Regierungsführung in den Vordergrund und drängte die wirtschaftliche Rationalität an den Rand. Die Schlussfolgerung schien aus einem Foucault’schen Lehrbuch zu stammen: ohne gesunde Körper keine Wirtschaft. Selbst wenn der Finanz- und Tech-Kapitalismus keine körperliche Anstrengung mehr erfordert, so ist er doch auf die Gesundheit der Bürger angewiesen und auf die Fähigkeit, die Zukunft zu projizieren und zu gestalten.

Aber während Foucaults Biopolitik davon ausging, die Gesundheit der Bürger*innen sei ein Teilbereich von Politik und Ökonomie, wurden wir in der Coronavirus-Krise Zeug*innen einer noch nie dagewesenen Spannung und eines Konflikts zwischen dem gesundheitlichen und dem wirtschaftlichen Imperativ – ja sogar des Triumphs des ersteren über den letzteren. Genau aus diesem Grund sind überall auf der Welt politische Lager entstanden, die den Vorrang des Gesundheitswesens bestreiten und die sich mit den verschiedenen Bruchlinien innerhalb der Gesellschaften überlappen. Zum ersten Mal setzten sich Gesundheit und Wirtschaft nicht gegenseitig voraus, sondern standen auf entgegengesetzten Seiten eines neuen politischen Spektrums.

 

Wirtschaft und Gesundheit: Zwei inkommensurable Güter

Die Politik, die sich aus der Coronavirus-Krise ergibt, ist nicht nur Ausdruck der unterschiedlichen Interpretationen der sozialen Welt und der Maßnahmen der verschiedenen politischen Lager, sondern auch der unüberbrückbaren Differenzen zwischen zwei inkommensurablen Gütern, Gütern also, die nicht gegeneinander ausgetauscht werden können, weil sie keinen gemeinsamen Messstandard haben. Freiheit, wirtschaftliches Überleben und körperliche Gesundheit sind solche inkommensurablen Güter – wir können das eine nicht dem anderen vorziehen. Zwar kann man sich vorübergehend für einen Lockdown entscheiden, doch auf lange Sicht lässt sich nicht eindeutig sagen, ob ein abgeriegeltes Land einem Land vorzuziehen ist, das sich wie Schweden dafür entschieden hat, offen zu bleiben. Zwischen dem wirtschaftlichen Überleben vieler – vor allem der Schwächsten – und dem Opfer des Lebens vieler – vor allem der Ältesten  – wurde es sehr schwierig, die Bedingungen jeder einzelnen dieser Alternativen zu verstehen. In ethischer Hinsicht war die Entscheidung zwischen Wirtschaft und Gesundheit hart, aber vielleicht noch überraschender war die Tatsache, dass die Gesundheit über den wirtschaftlichen Erwägungen stand. Nie zuvor wurden wir so schonungslos mit der Kunst des Kompromisses konfrontiert und der verblüffenden Niederlage der ökonomischen Vernunft. Im Gegensatz zu der Tatsache, dass die Gesundheit der Bürger*innen zu einem zentralen Aspekt der Aufgabe des Staates geworden war, kamen die Berechnungen der Ökonom*innen zu dem Schluss, dass landesweite Lockdowns mehr Kosten als Nutzen verursachen:

Ende März schätzten die Ökonom*innen van den Broek-Altenburg und Atherly der Universität Vermont die Kosteneffizienz der groß angelegten Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung von COVID-19. Sie berechneten die Kosten pro qualitätsbereinigtem Lebensjahr (QALY) eines Konjunkturpakets in Höhe von einer Billion US-Dollar im Vergleich zu der Zahl der Lebensjahre, die möglicherweise gerettet werden könnten (bis zu 13 Millionen in den USA). Sie schätzten, dass ein solches Paket zwischen 75.000 und 650.000 Dollar pro QALY kosten würde. (Die US-Regierung verabschiedete daraufhin ein Konjunkturpaket in Höhe von zwei Billionen US-Dollar.) Das legt nahe, dass solche Maßnahmen vermutlich nicht kosteneffektiv wären, sofern man mit dem üblichen Schwellenwert für lebensrettende medizinische Maßnahmen rechnet. So wird die Obergrenze für die Kosteneffizienz eines Eingriffs in den USA häufig mit etwa 100.000 US-Dollar pro gerettetem Lebensjahr angesetzt.[8]

Aus solchen Argumentationen folgt eindeutig, dass Lockdowns nicht aus im strengen Sinne wirtschaftlichen Gründen eingesetzt werden und dass ihre Begründung weit außerhalb der Grenzen ökonomischer Rationalität liegt. Etwas daran sollte uns überraschen: wie sehr der Wert des Lebens immer wieder bekräftigt wird, insbesondere der Wert des Lebens betagter Menschen. Dank des medizinischen Fortschritts werden die Menschen immer älter. Das führt zu einer ständig wachsenden Gruppe an Senior*innen, die ihre Renten – die der Arbeiterschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zuteil werden – genauso genießen wie den Ausblick, durchschnittlich achtzig Jahre alt zu werden. Dabei ist der moralische Wert, der dem Leben alter Menschen beigemessen wird, alles andere als natürlich gegeben. In krassem Gegensatz zu den vielen Gesellschaften, die Senizid praktizierten, also die freiwillige Tötung älterer Menschen (insbesondere während Hungersnöten oder wenn ältere Menschen eine Belastung darstellten, etwa wenn Nomaden gegen andere Gruppen kämpften), lautete die Reaktion unserer Gesellschaften, ihr Engagement für den Lebensschutz der Alten zu bekräftigen. In einem Vortrag, den Jared Diamond 2010 auf dem Seminar des Molecular Medicine Institute hielt, dachte er über das Schicksal alter Menschen in der US-amerikanischen Gesellschaft nach und kam zu dem Schluss, dass sie weit weniger gut behandelt würden als in den meisten Gesellschaften, vor allem in den mediterranen oder asiatischen.[9] Aber die Coronavirus-Krise hat gezeigt, wie sehr sich unsere Gesellschaften um alte Menschen kümmern.

Die Anfechtung einer solchen Entscheidung – für die Alten, für das Leben, für die Gesundheit – erfolgte in Form einer Ablehnung der vom Staat geförderten Ethik der Umsicht. Dabei wurden in den verschiedenen Ländern drei Argumente angeführt, die oft miteinander verwoben waren: das Bevorzugen der Freiheit gegenüber der Beschneidung der Freiheit, die die Lockdowns mit sich brachten (so erlaubte der Oberste Gerichtshof der USA Christ*innen und Jüd*innen im Namen der Religionsfreiheit die Wiedereröffnung von Gotteshäusern); das Bevorzugen des Marktes und des wirtschaftlichen Überlebens; und schließlich das Bevorzugen der Jugend und ihres Lebensstils, auch wenn dieser Aspekt oft nicht ausdrücklich geäußert wurde.

Ein Beispiel für Letzteres gab der französische Schauspieler und Regisseur Nicolas Bedos Ende September 2020. Er setzte einen aufrührerischen Tweet ab, in dem er die staatlichen Richtlinien ablehnte und ein kompromissloses Manifest für die Jugend propagierte, ohne das Wort jung auch nur zu erwähnen: Wir müssen jetzt leben, auch wenn es bedeutet, zu sterben (unsere Alten brauchen unsere Zärtlichkeit mehr als unsere Vorsichtsmaßnahmen), schrieb er. Wir leben. Wir lieben. Wir fiebern. Wir bewegen uns vorwärts. In dieser pisskalten Welt ... lasst uns intensiv leben, einander umarmen, sterben, fiebern, husten, genesen, das Leben ist zu kurz, um im Nachhinein geschmeckt zu werden."[10] 

Sich fieberhaft umarmen, intensiv leben, genesen – all diese Worte sind Code für die Jugend, eine Aufforderung an sie, ihre eigenen Wege zu gehen, und sich von der Gesellschaft zu lösen, die sich um die Alten kümmert. Der französische Philosoph André Comte-Sponville bekräftigte diese Botschaft, indem er die Beschränkungen als gesundheitlich korrekt geißelte und eine Begründung lieferte, die der herkömmlichen Ethik zuwiderlief.

“Wir leben. Wir lieben. Wir fiebern. Wir bewegen uns vorwärts. In dieser pisskalten Welt … lasst uns intensiv leben, einander umarmen, sterben, fiebern, husten, uns erholen, das Leben ist zu kurz, um im Nachhinein geschmeckt zu werden.“[10] 

Er behauptete, es gebe eine Hierarchie der Tode: Im Alter von 15 zu sterben sei wesentlich tragischer als mit 80. Er ging noch weiter: Gesundheit sei der höchste Wert unserer Gesellschaft und er hinterfragte, ob die Bildung von Kindern und die Wirtschaft für alte Menschen aufgegeben werden sollte.[11] Comte-Sponvill lehnte die Politik der strengen Einschränkungen nicht nur im Namen der Freiheit ab, sondern vor allem deshalb, weil der Healthism zu einem Diktat würde, das implizit das ganz konkrete wirtschaftliche und romantische Leben der jungen Menschen opfere. Der republikanische Vize-Gouverneur von Texas, Dan Patrick, äußerte auf Fox News eine ähnliche Idee: Wissen Sie, Tucker, niemand hat mir die Hand gereicht und gesagt: 'Sind Sie als älterer Bürger bereit, Ihr Überleben aufs Spiel zu setzen, um das Amerika, das ganz Amerika liebt, für Ihre Kinder und Enkelkinder zu erhalten?'. Und wenn das das Tauschgeschäft ist, bin ich dabei.[12] Diese Ansicht entspricht dem traditionellen Utilitarismus, der versucht, Kosten und Nutzen abzuwägen, um in einer Gesellschaft das größtmögliche Wohlbefinden zu erreichen. Einige Berufsethiker teilten diese Ansicht, die vermutlich auf demselben utilitaristischen Grundgedanken beruht. Im Journal of Medical Ethics argumentierten Forscher, dass Lockdowns unter Bedingungen, die nur die älteste Bevölkerungsschichten gefährden, unethisch seien.[13]

Die von verschiedenen Ländern verfolgte Politik bekräftigte jedoch explizit oder implizit, dass das Leben besonders gefährdeter Menschen wertvoll sei, dass sie eine kollektive Solidaritätsanstrengung benötigten und dass die Gesellschaft als Ganze sich zusammenreißen müsse, um die medizinische Infrastruktur nicht zu überfordern. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut vertrat die radikal moralische Auffassung, dass der Wert alter Menschen in keinem Verhältnis zu den wirtschaftlichen Verlusten stehe, und betrachtete es als ein Zeichen der Zivilisation selbst, wenn man nicht bereit sei, alte Menschen zu opfern.


Von einer Biopolitik zur Politik des Lebens

Ironischerweise wurde die Verteidigung der Alten, einst Vorrecht der Konservativen, durch die entstandene politische Spaltung zur Sache der progressiveren Parteien. Es entstand eine neue moralische und politische Matrix, in der sich die Forderungen nach den Interessen der Jugend sowie nach religiöser und wirtschaftlicher Freiheit vermischten und miteinander verschmolzen, wobei all dies auf der Ablehnung wissenschaftlicher Autorität beruhte.

Demonstrant*innen in den Vereinigten Staaten und in Deutschland (zumeist von der extremen Rechten) beriefen sich auf den Wert der Freiheit, um die Lockdowns abzulehnen, und vertraten eine Mischung aus religiösem Gewissen und einer primären Loyalität gegenüber der Wirtschaft. Im Vereinigten Königreich veränderte die populistische rechtsextreme Brexit-Partei im Zuge der Krise ihre Agenda. Die von Nigel Farage im Jahr 2019 gegründete politische Partei änderte ihren Namen in Reform UK und machte den Kampf gegen den von Boris Johnson am 31. Oktober angeordnete Lockdown zu ihrem wichtigsten Anliegen. Farage war, wie auch viele andere auch, der Ansicht, dass Einschränkungen mehr Schaden anrichten als Gutes bewirken würden.[14]

In Israel missachteten große Teile der ultraorthodoxen Gemeinschaft nicht nur die Regeln der Regierung, sondern fochten sie sogar an, indem sie ihre Treue Gott statt dem Staat gegenüber beschworen. Oder wie es ein Ultraorthodoxer in einem Interview mit der Fernsehstation i24 formulierte: Wir folgen den Regeln des Staates, solange sie nicht im Konflikt mit den Regeln des Judentums stehen. Wir folgen der Torah, nicht dem Staat.[15] Ähnliche Konfrontationen ereigneten sich in Brooklyn, wo die Ultraorthodoxen gegen die Anordnung von Governor Cuomo protestierten, Schulen und Synagogen zu schließen. (Der Oberste Gerichtshof gab ihnen schließlich recht). In Asien, Amerika und Europa gab es zahlreiche und oft gewaltsame Proteste gegen den Lockdown, die Populist*innen Auftrieb verschafften. Diese Proteste unterschieden sich links wie rechts durch nichts: Es herrschten die Angst vor Totalitarismus und Überwachung (Viktor Orbán etwa begann per Verfügung zu regieren); die Forderung, Gotteshäuser wieder zu öffnen, und die Wahrnehmung, dass der Staat sich stark in die Religionsfreiheit einmische (bei Katholik*innen in Frankreich, verschiedenen evangelikalen Gruppen in den USA; ultraorthodoxen Jüd*innen in Israel und den USA). Überall auf der Welt (in Indien, China, auf den Philippinen) hatten die Proteste eine wirtschaftliche Komponente, mit Ladenbesitzer*innen, migrantischen Arbeiter*innen, armen Menschen und Kulturarbeiter*innen als lautesten Stimmen gegen fehlende finanzielle Unterstützung während des Lockdowns.[16]

In diesen Protesten verdichteten sich linke und rechtsextreme staatsfeindliche Impulse, die manchmal mit Verschwörungstheorien begründet wurden. Bill Gates' vorausschauende Behauptung aus dem Jahr 2015, dass, wenn in den nächsten zehn Jahren irgendetwas zehn Millionen Menschen tötet, es wahrscheinlich ein Virus und kein Krieg sein wird, wurde beispielsweise als Beweis dafür angesehen, dass Gates beabsichtige, die Welt zu entvölkern oder er das Virus in einem Komplott mit anderen Mitgliedern der Eliteklasse verbreitet habe.

Die Coronavirus-Krise bot eine weitere Gelegenheit zur Ablehnung wissenschaftlichen Sachverstands und medizinischer Autorität, sei es durch die Leugnung des Nutzens von Lockdowns, des zoonotischen Ursprungs des Virus oder durch die erklärte Absicht vieler, den Impfstoff abzulehnen. Diese Ablehnung wissenschaftlichen Sachverstands hatte sich seit mindestens einem Jahrzehnt angebahnt: darin wie die Rechte mit wissenschaftlichen Beweisen für den Klimawandel umging. Seit Langem werden wissenschaftsfeindliche Ansichten von mächtigen Lobbys finanziert, die sich gegen die Regulierungen der industriellen Produktion wenden und die Autorität von Experten in parteipolitische Positionen verwandeln (die Liberalen sind nun diejenigen, die die Autorität der Experten unterstützen). Die Ablehnung der Wissenschaft durch den rechten Flügel wurde in Trumps Verachtung für Fauci und jegliche wissenschaftliche Leitlinien deutlich. In ähnlicher Weise wurde Boris Johnson während des zweiten Lockdowns von Mitgliedern der Konservativen Partei dafür kritisiert, dass er den wissenschaftlichen Berater*innen nachgegeben habe, nachdem er eine neue, strengere nationale Linie angekündigt hatte.[17]

So markiert die Coronakrise nun die Entstehung neuer politischer Diskurse, die ab sofort eine signifikante innenpolitische Rolle spielen werden. In den USA wurde die Wahl von Kommentator*innen als Abstimmung über die Art und Weise wahrgenommen, mit der Trump mit der Krise umgegangen war (oder eben nicht). Kommentator*innen wie Peter Beinart machten als einen unter vielen Gründen für die verlorene Wahl Trumps dessen Unfähigkeit verantwortlich, ein Förderpaket zu verabschieden, das das wirtschaftliche Desaster hätte mildern können (da er einen Teil der Arbeiterklasse als Wähler*innen verloren hatte).[18]

Die Coronakrise hat neue politische Konfliktlinien aufgeworfen. Die populistische Rechte auf der ganzen Welt wurde wesentlich unwilliger, den Staat durch einen gesundheitlichen Vertrag an seine Bürger*innen gebunden zu sehen. Die extreme Rechte wurde zur Verteidigerin der (religiösen und wirtschaftlichen) Freiheit, während Linke und Sozialdemokrat*innen restriktive gesundheitliche oder ökologische Einschränkungen und Maßnahmen unterstützten. Diese Diagnose wird bestätigt durch die Tatsache, dass neoliberale Regierungen am langsamsten auf das Virus reagierten und so für ihre Länder die schwerwiegendsten Krisen hervorriefen. Trump, Jair Bolsonaro, Rodrigo Duterte, Johnson, die Industriellen des nördlichen Italiens: Sie alle befürworteten zunächst eine Art biologischen Darwinismus – survival of the fittest – was ihren Sozialdarwinismus widerspiegelte. Anpassen oder sterben, wer vorankommt, verfügt über die Fähigkeit, stark zu sein. Wer hinten runterfällt, verdient es nicht, Hilfe zu bekommen. Die Linke organisierte sich wegen des Gesundheitspaktes zwischen dem Staat und seinen Bürger*innen instinktiv rund um die medizinische Epistemologie (der Epidemieolog*innen, Infektiolog*innen, Biolog*innen usw.).


Fazit

Sogar in den USA (wo Gesundheitsversorgung privatisiert und unzugänglich ist für die Armen und die Arbeiterklassen) erwarten die Bürger*innen, dass der Staat für die Überwindung dieser Gesundheitskrise sorgt (auch Trumps tägliche Briefings legten diese Sicht nahe). Diese Erwartung wurde jedoch in Frage gestellt, indem man darauf hinwies, dass die Gesundheit für viele Menschen unter anderen Imperativen subsumiert wird: Freiheit, Religion und wirtschaftliche Aktivitäten.

Der Gesundheitspakt, den die Staaten mit den Bürgern geschlossen haben, steht im Widerspruch zum wirtschaftlichen Neoliberalismus. Die Geschäftsleute, die zunehmend die Politik bestimmen, können nicht anders, als wie Geschäftsleute zu denken und zu handeln: Investitionen in unrentable Sektoren (wie die Seuchenprävention) sind unvereinbar mit einer am Nutzen orientierten Denkweise (so ist es nicht verwunderlich, dass Trump die für das Seuchen-Management zuständige Bundesbehörde aufgelöst und die Mittel für den Kampf gegen Pandemien gekürzt hatte). Die Bevorzugung vulnerabler, älterer und unproduktiver Körper steht im Widerspruch zur Bevorzugung des Profits.

Dies unterstreicht einen grundlegenden Aspekt sozialer Demokratien: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie in den meisten Fällen nicht zwischen unvereinbaren Gütern wählen müssen – und dadurch, dass die meisten Güter im Tagesgeschäft der Regierung erreicht und aufrechterhalten werden. Die Coronavirus-Krise bietet einen Vorgeschmack darauf, wie eine Politik aussehen wird, deren Ziel es ist, die gewohnten Lebensbedingungen zu garantieren, während Umwelt und Klima kollabieren. Diese neue Politik weist auf eine neuartige Berufung des Staates hin, die wir als Politik der Lebensbedingungen bezeichnen könnten, eine Politik, die auf die Bewältigung von Naturkatastrophen – ökologischer und biologischer Bedrohungen – ausgerichtet ist. Die Gewährleistung der Lebensbedingungen erfordert eine Rückkehr des Staates und beispiellose Investitionen in die wissenschaftliche Forschung (zum Klimawandel und zu ökologischen Katastrophen), in die Stadtplanung (zum Aufbau widerstandsfähiger Städte) und in Gesundheitssysteme, die in der Lage sind, Katastrophen größeren Ausmaßes zu bewältigen. Außerdem müssen die internationalen Gremien zur Überwachung der globalen Gesundheit und der wissenschaftliche Zusammenarbeit gestärkt werden. Diese Krise zeigt, dass die Alarmglocken, die die ökologische Linke in den vergangenen Jahrzehnten geläutet haben, keine Überreaktion waren: Nur durch massive Anstrengungen können größere Katastrophen abgewehrt werden. Doch am Horizont zeichnen sich bereits neue Bruchlinien und Spannungen ab.



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