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DER NAZIZOO

Eine Vision. Täglich ab dem 24. September auf Paranoia-tv.com

THORSTEN wurde 1969 geboren und wuchs in der niedersächsischen Kleinstadt Nörten-Hardenberg auf. Mit fünfzehn wurde er Skinhead und ging dann als Radio- und Fernsehtechniker in die Lehre. Er trat der neonazistischen Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) bei, begann Aufmärsche von Neonazis und Konzerte rechtsextremer Bands zu organisieren und wurde wegen Volksverhetzung verurteilt. Darüber hinaus suchte er immer wieder die tätliche Auseinandersetzung. 1988 griff er einen türkischen Jugendlichen an und wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. 1989 versuchte er, einen libanesischen Asylbewerber mit dem Auto zu überfahren. Thorsten floh vor Prozessbeginn nach Ostdeutschland und beteiligte sich am dortigen Aufbau der FAP, bis er 1991 festgenommen wurde. Er zeigte sich reumütig und wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. 1994 schoss er auf einer Abiturfeier Schüler mit einer Gaspistole an und kam wieder mit einer Bewährungsstrafe davon. So zunächst auch 1997 nach einem Scharmützel mit der Polizei. Doch das Landgericht hob die Bewährungsstrafe wieder auf, und Thorsten musste 2000 für 18 Monate ins Gefängnis. Nachdem die FAP 1995 verboten worden war, entstand unter Thorstens Mitwirken das Konzept der Freien Kameradschaften. Angelehnt an die linksautonome “Organisierung ohne Organisation” existierten diese militanten Neonazi-Gruppen nur auf informeller Basis und waren darum hinsichtlich ihrer Struktur und Mitglieder juristisch schwer zu fassen.

In Deutschland entstanden in den folgenden Jahren rund 150 Kameradschaften mit insgesamt rund 3000 Mitgliedern. Thorsten selbst gründete eine Kameradschaft im niedersächsischen Northeim und wurde Mitglied in dem überregionalen Führungszirkel “Arische Bruderschaft”. Er stand mit dem Umfeld der Terrororganisation NSU und dem internationalen Terrornetzwerk Combat 18 in Kontakt. 1998 gründete Thorsten einen “Großhandel für Bild- und Tonträger, Geschenkartikel, Militärbekleidung und -schuhe, Campingartikel”. 1999 heiratete er und erwarb mit seiner Frau das Gutshaus Hanstein im Eichsfelder Fretterode, das sie mit tatkräftiger Unterstützung der Neonazi-Szene restaurierten und nach seiner Haftentlassung 2002 gemeinsam mit den Schwiegereltern bezogen. Auf dem Anwesen fanden regelmäßig Kameradschaftstreffen, Liederabende und Tagungen rechtsextremer Vereine statt. Bei Hausdurchsuchungen wurden wiederholt volksverhetzende CDs und Waffen sichergestellt, und Thorsten wurde zu einer Geldstrafe und Sozialarbeit verurteilt. Im Garten errichtete er die Reste eines SS-Ehrenmals sowie ein Denkmal für die „Millionen wehrloser deutscher Opfer von Bombenterror, Flucht und Vertreibung, Gefangenschaft und Nachkriegsverbrechen der Sieger“. 

 

19 Thorsten Bolte

 

2004 trat Thorsten der NPD bei, nachdem im Vorjahr ein Verbotsverfahren gegen die Partei vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert war. Thorsten betreute das eigens eingerichtete “Referat Freie Kameradschaften”, warb weitere Kameradschaftler an und stieg über die Jahre hinweg zum thüringischen Landesvorsitzenden und Bundes-Vizevorsitzenden auf. 2017 scheiterte ein weiteres Verbotsverfahren gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht, da die Partei zwar verfassungsfeindlich sei, es ihr aber an politischer Bedeutung fehle, um ein Verbot zu rechtfertigen. Die NPD hatte in den letzten Jahren massiv an Mitgliedern und Stimmen verloren. Der Versuch, die Partei vorsichtig zu liberalisieren, verlor angesichts einer sich unter der Ägide seines alten Wegbegleiters BJÖRN zunehmend radikalisierenden AfD seine Wirkung. Thorsten wollte die Chance nutzen, die NPD weiter gegenüber den Freien Kameradschaften und anderen neonazistischen Aktionsformen zu öffnen.

Doch bei einer Kampfabstimmung um den Bundesvorsitz unterlag er deutlich. Auch die von ihm organisierten Events hatten es schwer, seit die Behörden, statt umständlich ein Verbot anzustrengen, auf die äußerst effektive Maßnahme verfallen waren, einfach nur keinen Alkohol zu erlauben. Wenn sich die Reihen bei den Konzerten und Festen einmal lichteten und man nicht mehr nur eine große schwarze Masse sah, bot sich das trostlose Bild eines Ehemaligen-Treffens. Die meisten Besucher gingen wie Thorsten auf die fünfzig zu. Unter ihren Motto-T-Shirts spannten sich gewaltige Bäuche, die Cargopants hingen weit wie Röcke herab, und viele Glatzen brauchten nicht mehr rasiert zu werden.

Als Deutsch Süd-Ost gegründet wurde, schlug INGO vor, Neonazis auf freiwilliger Basis in Nazizoos anzusiedeln, wo sie, didaktisch gerahmt, zu uneingeschränkter Meinungsäußerung autorisiert seien. Die meisten Kameradschaftler fürchteten, dort als Witzfiguren zu enden, und sprachen von „Arier-KZs“. Thorsten hingegen sah die Chance, Nazis eine sorgenfreie und dazu noch profitable Heimat zu schenken, und errichtete auf dem am Thüringer Wald gelegenen Gelände des kürzlich abgerissenen NVA-Erholungsheims Sonnenberg den ersten Nazizoo Sonnenberg. Nachts und an ihren freien Tagen kamen die Zoonazis in einem stehen gebliebenen vierstöckigen Nebengebäude, einer raren Plattenbauvariante mit Satteldach, unter, tagsüber hielten sie sich in einem Freilandgehege auf. Bei dessen Gestaltung ließ sich Thorsten von dem Eichsfelder Alternativen Bärenpark inspirieren, den er mehrmals mit seinen Kindern besucht hatte. Ausrangierte Zoo- und Zirkusbären konnten sich hier gemeinsam mit einem Wolfsrudel auf mehreren Hektar Buchenwald frei umherbewegen. Um den Jagdinstinkt der Bären wiederzubeleben, wurde ihr Essen an immer neuen Orten versteckt. Betagte Bären kamen in die “Seniorenabteilung”, wo sie nicht mehr mit den Wölfen und anderen Bären um ihr Futter konkurrieren mussten. Mitten durch das Gelände führte ein Drahttunnel für die Besucher. Außerdem konnten sie das Gehege von Baumhäusern aus überblicken. Um Zwischenfälle sicher auszuschließen, verwendete Thorsten für den durch den Nazizoo führenden Tunnel Panzerglas. Schautafeln und Videos erzählten das Schicksal jedes einzelnen Bären – und so machte Thorsten es auch mit den Zoonazis.

Im Sonnenberg-Blog wurden sie liebevoll infantilisiert: “So eine Freundschaft ist ja ganz nett, aber wohnen will ich bitte alleine. Allein das Geschnarche!” Oder: “Aber dann im Winter: Dauerregen. Nach und nach drang die Feuchtigkeit in meine Höhle ein. Anfangs habe ich noch gedacht: Mach dir nichts draus, Laura, Augen zu und durch. Aber bald schon wurde mein armer Popo immer nasser, und die ganze Zeit – plitsch, platsch, plitsch, platsch – tropfte es mir auf meine feine Nase. Das hält der stärkste Nazi nicht aus. Schließlich entschloss ich mich zum Auszug. Kaum stand ich schlecht gelaunt vor meinem Höhleneingang, kam Pedro auf mich zu gehopst. Den hatte die Nässe schon ein paar Tage zuvor aus seiner Höhle getrieben. Fröhlich und gut gelaunt klatschte er mir zur Begrüßung seine Faust in den Bauch. Fand ich gar nicht gut. Männer haben wirklich kein Feingefühl.” Über den Eintrittspreis hinaus konnte man eine Patenschaft für seinen Lieblingsnazi abschließen. Im Shop vor Ort und online gab es allerlei exklusiv vom und für den Nazizoo produziertes Merchandising: Flaggen, Sticker, T-Shirts, Sweater, Schnäpse, Rucksäcke, Taschen, Teddies…

 

Teddy Nazizoo

 

Die Nazizoos waren bei jedem volksverhetzenden Motiv zu übergroßen Warnhinweisen vor dem Nationalsozialismus und Fotos von Leichenbergen getöteter KZ-Häftlinge verpflichtet, die sich nicht abtrennen ließen, ohne eine Selbstvernichtung des Merchandisings auszulösen, und die öffentlich auch nicht verdeckt werden durften – aber zumindest privat konnte einen niemand daran hindern. Antifas und Hipstern wiederum gefiel es, das eigentliche Motiv zu verdecken und nur die Warnhinweise offen herzuzeigen. Sammler erwarben das Merchandising setweise. Bald entwickelte sich ein intensiver Wettbewerb zwischen den verschiedenen Nazizoos. Sie bedruckten nicht mehr nur, sondern schnitzten Runen, Drachen, nordische Gottheiten und den Weltenbaum, siebdruckten Poster und Tapeten und maßschneiderten Wehrmachts-, SS- und Fantasie-Uniformen. Sogar die Warnhinweise wurden von Hand gestickt, gestrickt und gehäkelt. Je mehr sich der Markt für ihre Devotionalien entwickelte, desto mehr künstlerische Talente zogen die Nazizoos an. Neben dem sich auf die Farben Schwarz, Weiß, Rot und Braun und eine kantige Formensprache beschränkenden “klassischen” Nazi-Stil etablierte sich auch ein kunterbunt waberndes Hypna (Hippie Nazi) und ein prismatisch-irisierendes Psykna (Psycho Nazi).

Bald setzte auch eine Erneuerung in Spiel, Tanz, Musik und Film ein. Zwar waren die Zoonazis bei künstlerischen Darbietungen und Aufzeichnungen genauso dazu verpflichtet, diese mit ausführlichen Warnhinweisen zu durchsetzen – und das auf eine so organische Weise, dass es, wenn man sie wie Werbeunterbrechungen einfach überspringen wollte, holprig und lückenhaft wurde. Doch der Ehrgeiz ging nun dahin, die Warnhinweise als Breaks raffiniert zu integrieren. Bei Liveauftritten machten sie, während die Warnhinweise erklangen, Gesten, die das Gesagte als Schwachsinn, Kinderei oder böses Gewitter abtaten. Manche nahmen während dieser Passagen einen Schnuller in den Mund, legten sich Handschnellen an oder schütteten sich einen Eimer Wasser über den Kopf, und das Publikum pfiff und buhte. Eine neue Generation von Schizoonas (kurz für “Schizonazis” und “Schizo-Zoonazis”) verstand die Warnhinweise nicht länger als böses Außen, sondern als eine ominöse innere Stimme. Häufig ließen die Schizoonas ihr Publikum im Unklaren darüber, ob sie der Nationalsozialismus, die Warnhinweise oder beide zugleich als böse Dämonen heimsuchten. Schizoonas boten ein Identifikationspotenzial, das weit in globale “darke” Jugendkulturen wie Metal, Emo und Cloudrap hineinreichte. Schizoonas waren das nächste große Ding. Die Band Rammstein, die schon seit drei Jahrzehnten mit ambiguen Nazi-Referenzen und aufwändigen Pyroshows ein Millionenpublikum lockte, erschien im Nachhinein wie eine ungelenke Vorübung für das, was da noch kommen sollte.


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