DIE LIMINALE GRENZE DES MUSEUMS
Über "Amarantus", Mariana Castillo Deballs Reise ins Unsterbliche im MGKSiegen.
Bei diesem archetypischen Eintritt in eine überirdische Welt grüßen eine schlangenköpfige, eine uhrwerkförmige und eine rhombusförmig assemblierte Kolumne im überbelichteten Museumsraum. Es ist kühl und einsam um die Säulen aus der Töpferwerkstatt Coatlicue in Serignán, wie an einer Grenze zwischen Realität und Mythologie. Die Säulen atmen den Raum ein, um gleich wieder die präkolumbianischen Symbole hinaus zu pusten, die im Rauch der flüsternden Elemente einer vorher geahnten Kosmogonie Rationales und Spirituelles miteinander verstricken. Den Status der Kunstwerke zwischen Objekt und Ephemerem umgibt ein Repertoire von Volksgeschichten, Gedichten und Konzeptualismus, was die Arbeit von Mariana Castillo Deball ein holistisches Gewicht verleiht. Es sieht leicht aus, sich in diesem Labyrinth der Beziehungen zu verlieren.
Dreht man sich um, ist die Numberger Karte von Tenochtitlán – der Hauptstadt der Aztecas in Culhua-Mexica – aus dem Jahr 1521 als gigantischer Holzschnitt auf dem Boden zu sehen. Hier wird einem klar, wie Castillo Deball die Koordinaten der Kolonialisierung exorziert. Auf diesem Symbolbild für europäischen Imperialismus, ruhen mexikanische Chinelo-Kostüme für ein Reinigungsritual, zuvor Teil einer Performance in Matadero (Madrid, 2013) mit dem Titel No acabarán mis flores, die den Stil der Kolonialzeit travestieren. Das Wort "Chinelos" leitet sich vom Nahuatl-Wort "Zineloquie" (“verkleidet”) ab, und der dazugehörige Tanz entwickelte sich einst zu einem Spott der Europäer mit ihrer feinen Kleidung, ihren Bärten, ihrer hellen Haut und ihren Manierismen. Die Ausstellung wird damit zum Atlas von Castillo Deballs Hinterfragung von kolonialen Vorhaben, in der sie Gesten von Widerstand ansammelt und mithilfe ausgewählter Materialien als sinnliche Bühne erfahrbar macht.
Masken, Rollentausch, Anonymität
Mariana Castillo Deballs künstlerische Praxis wird gerne mit der einer Archäologin verglichen, da sie akribisch und gründlich Methoden untersucht und Verbindungen zwischen der Natur von Materialien und der Historizität von Objekten aufzeigt, und somit die Geschichte lebendig als Feld für eine kritische Ästhetik öffnen. Sie verwendet häufig fossile Abriebe in ihren Kunstwerken, um auf die Schichtung der geologischen und kulturellen Geschichte Bezug zu nehmen. In Once I thought the world was somewhere else, ihre jüngste Arbeit, landen wir wieder im Mittelpunkt des künstlerischen Gegenstandes: Ein Diorama der australischen Wüste, in welchem die Hand der Künstlerin die Spuren der ältesten Lebensformen zeigt: Fossile aus dem Ediacarium. Once I thought… bezieht sich auf Stephen Jay Goulds These über das Zurückspulen des “Band des Lebens”: Wenn die Welt immer wieder von vorne beginnen könnte, würden wir jedes Mal ein anderes Ergebnis bekommen, und wer weißt wo die Spezien heute miteinander leben würden.
"Ich denke, es ist sehr wichtig, in diesen Texten und Quellen zu finden und zu untersuchen, wie Dinge entstanden sind. Es ist ein Wissen, das oft nur durch Übung vermittelt werden kann. Daher weiß man* nicht genau, wie man Farben aus einer Pflanze so extrahiert, wie es die Menschen im 15. Jahrhundert taten, weil sie kein sehr klares Rezept hinterlassen haben. Vielleicht haben sie eine Zeichnung gemacht und vielleicht einen Hinweis hinterlassen, aber der einzige wirkliche Weg, die Farbe zu knacken, besteht darin, sie zu wiederholen und selbst zu machen. Es ist diese Idee der Wiederholung, durch Übung, die ich manchmal brauche, um zu verstehen, wie dieses materielle Wissen funktioniert." (1)
Vergangenheit - als Entität die ausgelöscht werden kann? Die Möglichkeit manifestiert sich in ihrer Praxis mittels Papier, Hauptträger von Geschichtsschreibung, aber auch einem Material, das mit ihrem persönlichen Interesse an Arbeitsmethoden und -bedingungen tief verankert ist. So löschte Castillo Deball jedes der 987 Wörter, die ein kurzer Essay von Borges enthält, aus 987 verschiedenen Büchern in der Bibliothek der Jan van Eyck Academie in Maastricht; fabrizierte Negative aus Papier von Stücke aus der mesoamerikanischen Sammlung des Ethnologischen Museums in Dahlem; hängte auf einer filigranen Bambus-Spiralstruktur Frottagen auf Papier, welche die Künstlerin von Fossilien im Museum für Naturkunde Berlin abnahm. Vor ihrem Studium der Künste in den Niederlanden arbeitete Castillo Deball für Martha Hellion und den unabhängigen Verlag Beau Geste Press (BGP), der ein Netzwerk von visuellen Dichterinnen, Neo-Dadaisten und Künstler*innen beherbergt, die Tei der Fluxus-Bewegung waren. Bei BGP lernte Castillo Deball über die Wirtschaft und Autonomie der Produktion, Verteilung und Dokumentation der Kunst zu reflektieren, um eine konstante, nie unterbrochene Hinterfragung der Institution durch fiktive und reale Charaktere, Ereignisse und Artefakte.
Krokodil, Pedernal, Skorpion
Mariana Castillo Deballs Interesse an den mathematischen Gesetzen und geometrischen Strukturen, die die natürliche Welt bestimmen, hat zu einer Reihe von Arbeiten geführt, die sich durch die Zusammenarbeit und Forschung mit Institutionen und Museen auszeichnen. El „dónde estoy” va desapareciendo (2011) ist ein Beispiel gutes Beispiel dafür, und diese Ausgabe hat die 10 Meter lange Zeichnung durch ihre Seiten zerstreut. Es animiert das Derivé Antiker Weisheit durch Fragmente aus unterschiedlichen, mehrsprachigen historischen und poetischer Quellen, und rekurriert auf den „Codex Borgia”, einen der wenigen präkolumbianischen Kodizes aus Mesoamerika die überlebt haben und der heute in der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek in Rom (wie ironisch, nicht wahr?) bestattet ist. Aus der Perspektive des Kodex, erzählt und imaginiert Castillo Deball Abenteuer und Wandlungen einer Kultur in Händen ihrer Unterdrücker und innerhalb der Wände der Kolonialherrschaften: Von seiner Rettung aus den Flammen, als die spanischen Eroberer versuchten, ihn zu verbrennen, bis zu seiner Reise quer über den Ozean, ist die Personifizierung des Kodex ein apotheotischer Versuch, die Bedeutung dieses Raubs zu verstehen, aber vor allem die Kraft der prä-hispanischen Welt, die trotz imperialer Destruktion heute noch zu restaurieren ist.
Mariana Castillo Deball bestrebt in jeder einzelnen Zeichnung, Plastik und jedem Video die Transformation der ethnographischen Objekte zurück in ihren losgelösten Zustand. Sie verfolgt ihren Weg durch Bereiche wie Archäologie, Wissenschaft und Literatur und führt Wissensaustausch als einen Prozess durch, der Transformation auf beiden Seiten beinhaltet. Castillo Deball verhält sich wie selbst außerhalb der gesellschaftlichen Grenzen stehend im übernatürlichen Rahmen. Amarantus als Titel der Ausstellung ist mit den aztekischen Traditionen verbunden und verstärkt diese Grenzpassage. Amarantus ist der Schlüssel zur Unsterblichkeit in dieser Welt. Darauf zurückzukommen bedeutet ein soziales Erwachen aus dem kolonialen Traum, über die Anderen zu herrschen.
The where I am
Between shadow and shadow
Walk
Silently
I go out
Mountain
escape
light-footed, invisible, mute
The hunter turned deer
With giant graceful leaps
Attempt
at night
arrow
The hunter
moving cautiously
Jaguar
Stealthily
I am
Cautiously among the branches
I perceive
I
Trap me
even the most imperceptible noise
ears entirely
his movement, hunger
thirsty
arroyo under a half moon
The nightfallenness of all words
sows
confusion
burning me
I feel something
cutting through me
is the flower-arrow
They place my head upon a stone
pulque on my tongue
They disrobe me
Peel the skin carefully away from my body
Open in a symmetrical pattern
They cut it into strips
fold it into equal parts
one long long strip
a codex
On the skin of all the deer
traversing the mountain,
the characters and destinies
of each day are inscribed
On its body our existence is explained,
Times and meanings are ordered.
The painter: black and red ink,
artist, creator of things with dark water.
Designs things with charcoal,
draws them,
prepares the color black,
grinds it,
applies it.
shading in
draws feet, faces,
Traces figures.
Their history was kept.
But later it was burned
A resolution was made,
It’s not good for everyone
to have knowledge of the codices
Those who are subject (the people)
Will begin to rot
And the earth will twist on its axis
Because great falsehood is kept there
And many have been taken for gods
And all of this happened to us.
We saw it,
we admired it.
With this lamentable and sad fate
we found ourselves in anguish.
Along the paths broken darts lie,
hair scattered everywhere.
Houses destroyed
their walls turned red.
We have eaten branches of colorín
We have chewed hey
stones, lizards, rats, dirt ground to dust, worms.
They put a price on us.
The price of a youth, of a priest,
of a boy and of a maiden.
Stop, it was a poor man’s price
Just two fistfuls of corn,
Just ten tortillas
Just that was our price.
Thus began my voyage,
I wandered over land and sea
The voices became more and more strange,
no one opened my pages to repeat their histories,
I began to forget where I came from,
my shapes went mute.
After vast movement,
I arrived in a very dark and silent place,
there were many other codices,
but with unfamiliar figures and animals.
Together, it was as if we were a cemetery of cryptic drawings,
of entombed histories.
Sometimes we’d engage in conversation,
almost in sign language,
about things we might share.
We all came from places that had been pillaged;
we remembered wars, fires.
We had survived by accident.
The days in the library were eternal,
cold and boring
I could feel how the humidity was eating away at my pages,
perhaps years passed,
perhaps centuries.
In the art
of explaining
Mexican people
created their figurative writing,
other authors affirm,
they could explain everything they wanted this way.
This was their manner
They expressed between each other,
when all men spoke one language,
or it was invented,
when mortified because of all the different languages,
it was necessary to resort to the figures,
to mutually understand each other.
Know and help each other,
In this great embarrassment.
An Aztec hieroglyphical manuscript preserved in the library of the Vatican 1814
The Mexican paintings
A very small number which has reached our times
excite a double interest
both from the light they through on mythology,
the history of the first inhabitants of America
and the apparent connection with Egyptian hieroglyphic writing.
At first sight you see nothing but atrocities:
Heads with a grotesque silhouette,
rude gestures,
These figures, devilishly done,
leave the impression of life.
One is forced to agree,
The Mexican artist saw and made ugly things,
But he saw and made them accurately.
Of all the Mexican manuscripts preserved in Italy
The Codex Borgianus of Veletri,
Is the largest, and most remarkable for the splendor.
The manuscript belonged to the family of Giustiniani.
We know not by what unlucky chance,
It fell into the hands of the domestics of that house,
In short,
Ignorant of the value of such a collection of monstrous figures,
Gave it as a plaything to their children.
From their hands it was rescued by Cardinal Borgia,
But before, some pages of the deer skin were burned,
On which the paintings are delineated.
But my skin is calm:
the fraternity has begun.
To add. To subtract. To multiply and to divide.
Death nourished by life
on the first and last compass.
The where I am is vanishing.
What once was a population of hieroglyphs,
fearfully empty.
The builders dead,
the forest regained its spaces,
hoisting its victory atop ruins.
I heard that some marvelously
ancient trees said:
“And you, what are you doing here?
We are silently illiterate.
Learn to read
so you can write on us.”
That was all
I was able to learn. It was a language
made of wind and dry leaves.
Absorb me. Dilate me. Dilute me.
//
Mariana Castillo Deball's profile is part of the art historical Issue 15: DECOLOMANIA.
Her solo exhibition Amarantus runs at MGKSiegen from January 29 until May 5.
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