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SPRACHE IST IMMER EIN KOMPROMISS

Auszüge aus “Die Macht der Mehrsprachigkeit”, das am Montag bei Duden Verlag erschienen ist.

Sprache ist immer ein Kompromiss. Das zeigt Olga Grjasnowa in ihrem Buch, das seit Montag in allen Buchhandlungen zu kaufen ist. Aus Grjasnowas Argumenten die Konsequenzen zu ziehen, würde bedeuten, das gesamte Schulsystem umzukrempeln, damit nicht nur Französisch und Englisch an den Schulen gelernt werden kann, sondern auch Türkisch, Arabisch oder Vietnamesisch. Das würde auch bedeuten, Begrifflichkeiten wie „Gossensprachen“ oder „Überheblichkeit“ aus dem Vokabular und Verhalten zu löschen, die manche benutzen, um Sätze von anderen zu „verbessern“, die offensichtlich mit einer Sprache zu hadern haben. Das würde heißen, die klassenbedingten Vorurteile als das zu identifizieren, was sie sind: immer noch von einem bildungsbürgerlichen Ideal strukturell hierarchisiert. 

Manche Podcast-Moderatoren fanden in den letzten Wochen Grjasnowa Plädoyer etwas angry; sie „müssten“ jetzt als „Bio-deutsche“ die „Anti-Haltung” einnehmen, “nicht für sich selbst sondern für die Zuhörer“, und fragen, warum es keine Lingua Franca gebe, in der sich alle verständigen könnten, hier in Deutschland. Unsere Blindflecken in einer immer noch zu diversifizierenden Kommunikation sind täglich zu verlernen, Schritt für Schritt. Warum und wie, das beschreibt Grjasnowa Kapitel für Kapitel. Wenn wir Sonntagabends an Grjasnowas  Esstisch sitzen, genießen wir es, einem vierköpfigen Arabisch-Russisch-Deutsch-Englischen Haushalt beim Gelingen eines fröhlichen und zugleich herausfordernden Verlernens und Erlernens der Formen, sich gegenseitig zu verstehen, zuzusehen. Das Buch ist die Quintessenz dieses Struggles, in dem sich viel ganz unterschiedliche Struggles einer Gesellschaft spiegeln, die endlich mal anfangen könnte, sich als solche, als Gesellschaft nämlich, zu verstehen. Und aufhören, Menschen und Sprachen mittels unbeweglicher Definitionen andauernd auszugrenzen. - mip

 

Über Herkunft und Vielfalt

Als ich mit elf Jahren nach Deutschland kam, konn­te ich außer dem Ausdruck »Hände hoch!«, den ich in alten sowjetischen Filmen aufgeschnappt hatte, kein Wort Deutsch. Eine Woche nach unserer Ankunft in der tiefsten hessischen Provinz wurde ich in die Schule ge­schickt – ohne irgendeine Vorbereitung. Ich wurde in die vierte Klasse der örtlichen Grundschule gesteckt, ob­wohl ich in Baku bereits die sechste Klasse besucht hatte. Anscheinend sollte die Rückstellung mir beim Spracher­werb helfen, sie sorgte aber auch dafür, dass ich mich in der Folge jahrelang für den Umstand schämte, älter als die meisten anderen in meiner Klasse zu sein. Ich be­tonte immer wieder, nicht sitzen geblieben zu sein. In meiner Klasse waren etliche andere Kinder aus meinem Asylbewerberheim, einige davon sogar noch älter als ich. Wir konnten uns untereinander auf Englisch verstän­digen. Ich hatte die Sprache seit der zweiten Klasse ge­lernt und konnte nun zwar nicht beim flüssigen Englisch der Mädchen aus Afghanistan mithalten, aber immer­hin war mir eine eingeschränkte Kommunikation mög­lich. Meine deutschsprachigen Mitschüler*innen konn­ te ich dagegen erst einmal überhaupt nicht verstehen. Ich konnte dem Unterricht nicht folgen, lange wusste ich nicht einmal, welches Fach wir gerade durchnahmen. Nur während des Mathematikunterrichts fühlte ich mich auf sicherem Terrain – auch wenn ich verwundert darüber war, dass Algebra und Geometrie zusammen unter­richtet wurden und nicht als zwei getrennte Fächer wie in Baku. Genauso wie Deutsch und Literatur – ich hatte einfach nicht verstanden, dass ich wieder in der Grund­schule gelandet war.

 

"Meine Lehrer*innen konnten mir kaum helfen, sie hatten weder die Mittel noch die Ausbildung dafür. Zu­ dem mussten sie auch noch den Regelunterricht halten. Das Einzige, was sie fanden, war ein Ringordner mit et­wa 150 Karteikarten, auf denen Alltagsszenen und Ge­genstände dargestellt und die dazugehörigen deutschen Bezeichnungen notiert waren. So lernte ich Deutsch. Ich wünsche es niemanden sonst."

Eine ähnliche Erfahrung beschreibt die in Sarajewo geborene Journalistin Melisa Erkurt in ihrem Buch Generation Haram. Ihre Mutter war mit ihr während des Ju­goslawienkrieges nach Österreich geflohen. »[I]ch hör­te eine Zeitlang komplett auf zu sprechen, zum Teil aus Angst davor, ausgelacht zu werden, wenn ich ein Wort auf Deutsch falsch ausspreche.« (1) Wie Melisa Erkurt habe auch ich die ersten Jahre im neuen Land überwiegend geschwiegen. Ich fühlte mich zu unsicher, Deutsch in der Öffentlichkeit zu sprechen, und zugleich vergaß ich auch meine Englischkenntnisse. Nach einigen Monaten wechselte ich an eine neue Schule, und dort gab es niemanden, mit dem ich mich auf Eng­lisch verständigen konnte. Sogar mein Russisch wurde zunehmend schwächer. Nach etwa einem Jahr war ich schließlich in der La­ge, die Menschen in meiner Umgebung zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren. Zeitgleich fing ich an, mich durch die Bestände der öffentlichen Bibliothek zu lesen. Obwohl ich auf Russisch bereits Hemingway, Émile Zola, Tolstoi und Balzac las, konnte auf Deutsch natürlich keine Rede davon sein. Ich las stattdessen alle verfügbaren Bände der Hanni und Nanni­ Reihe – nicht unbedingt, weil ich sie so sehr mochte, sondern weil ich es konnte. Mein Deutsch verbesserte sich spürbar. Den­noch dauerte es selbst noch auf dem Gymnasium lange, bis ich mich in puncto Rechtschreibung und Grammatik sicher fühlte. Ich hatte großes Glück, dass meine damali­ge Deutschlehrerin, Frau Heuberger, mir Zeit gab, mich zu entwickeln. Sie benotete vor allem den Inhalt und den Stil meiner Klausuren.

Doch nicht alle Erlebnisse beim Erlernen der deut­schen Sprache waren so erfreulich. Am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist mir eine andere Lehrerin, die mir kurz vor dem Abitur erklärte, ich könnte keine Höchstnote in Deutsch bekommen, da ich mit einem Ak­zent spräche. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits ei­nen Literaturwettbewerb in meiner Region gewonnen – außer mir war niemand von meiner Schule unter den Preisträger*innen. Ein Umstand, der nicht zu meinen Gunsten ausgelegt wurde. Meine Deutschlehrerin nann­te mich vor den anderen aus der Klasse fortan süffisant »die Schriftstellerin«. Sie tat es, um mich zu demütigen. Wenige Monate später machte ich Abitur. Als Prü­fungsleistung schrieb ich eine Arbeit über die moderne israelische Gesellschaft, die mit der Note »sehr gut« be­wertet wurde. Meine Schule nahm damals an dem Pro­jekt »Jugend schreibt« der Frankfurter Allgemeinen Zeitung teil. Ich galt nie als »gut« oder »begabt« genug, um für dieses Projekt auch nur in Betracht gezogen zu wer­den. Allerdings schlug mir die Lehrerin, die auswählte, wer mitmachen durfte, vor, meine Arbeit ihrem Schü­ler zu geben. Er sollte sie in einem Artikel für die FAZ zusammenfassen – ohne allerdings meinen Namen oder meine Arbeit zu erwähnen. Die Lehrerin fand das völlig normal. Ich habe abgelehnt.

Dieselbe Lehrerin fragte damals eine Schülerin, die ein Kopftuch trug, ob diese wisse, dass sich viele Frau­en daran erhängen würden, und dabei zog sie leicht am Tuch. Diese Schülerin studierte später als Erste in ihrer Familie – Anglistik und Germanistik auf Lehramt. Bei­des schloss sie mit der Bestnote ab. Als sie im Rahmen ihres Studiums für ein pädagogisches Pflichtpraktikum an ihre alte Schule zurückkehrte, war die besagte Lehrerin dort immer noch tätig. Sie sprach der jungen Frau im Lehrerzimmer die Fähigkeit ab, Deutsch zu unterrichten, und erinnerte an die »wallenden Gewänder«, die diese angeblich während ihrer Schulzeit trug. Diesmal schritt jedoch eine jüngere Kollegin ein.

Wie viele andere Einwandererkinder wünschte ich mir damals nichts sehnlicher, als genauso zu sein wie al­le anderen: nicht aufzufallen, Annika oder Christine zu heißen, akzentfrei Deutsch zu sprechen. Ich wollte mög­lichst gewöhnlich sein, was auch immer das genau hieß. Die Wiener Sprachwissenschaftlerin Brigitta Busch geht in ihrem Buch über Mehrsprachigkeit unter ande­rem auf eine empirische Untersuchung ein, wonach Kin­der und Jugendliche aus Einwandererfamilien sehr oft von ihren Eltern zu Dolmetscherdiensten herangezogen werden. Von den 42 befragten Jugendlichen gaben 41 an, gelegentlich oder häufig für ihre Eltern gedolmetscht zu haben – im Arbeitsamt, im Krankenhaus, in der Schule, in Verwaltungen oder bei der Polizei. Die Jugendlichen seien allerdings oft überfordert, beispielsweise wenn es um medizinische Diagnosen oder um Fragen des Auf­enthaltsstatus geht oder wenn sie mit Kontexten und Inhalten konfrontiert werden, die den altersgemäßen Erfahrungshorizont überschreiten. Zudem werde den Jugendlichen eine zu große Verantwortung aufgebürdet, denn ihre Übersetzungen und vor allem mögliche Feh­ler dabei könnten für ihre Familien fatale Konsequen­zen haben. Die Eltern könnten wegen ihrer vermeintlich falschen Übersetzung eine Falschaussage machen, den Aufenthaltsstatus aberkannt bekommen oder eine fal­sche Behandlung im Krankenhaus riskieren. Doch auch der Informationsvorsprung, den die Jugendlichen ge­genüber ihren Eltern hätten, könnte für sie zu einer Be­lastung werden. Die Behörden würden als übermächtig erlebt, die eigenen Eltern dagegen als hilflos und ohn­mächtig. (2) Auch ich schrieb für meine Eltern viele Briefe an die Behörden, begleitete sie zu den Elternsprechtagen, weil sie Hilfe brauchten, um die Lehrer zu verstehen. Wäh­rend dieser Termine war ich fast das einzige Kind auf dem Schulgelände. Ich schämte mich, und zugleich fühl­te ich mich hilflos.

 

"Eine völlig andere Erfahrung machte ich viel später in Polen, als ich in Warschau mein Erasmus­ Semester absolvierte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, Polnisch zu sprechen – und ich sprach es sehr schlecht –, ließ man mich ausreden. Einmal eröffnete ich sogar ein Konto auf Polnisch – zwei Stunden lang und mit einem Wörterbuch bewaffnet. Es war ein krasser Gegensatz zu meinen Er­lebnissen in Deutschland, und ich vermute, es hatte damit zu tun, dass ich als »Expat« und nicht als »Aus­länderin« gelesen wurde. Über die Freundlichkeit der Menschen in Warschau staune ich bis heute."

 

Die Scham, fehlerhaftes Deutsch zu sprechen, hat sich tief in mich eingeschrieben. Ich habe meiner eige­nen Sprache sehr lange nicht vertraut. Erst mit Mitte zwanzig – ich studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und war für ein Austauschsemester in Mos­kau – hörte ich auf, mich für mein Deutsch zu schämen. Ich stand für Studentenkarten am Bolschoi­ Theater an, als vor mir ein Mann auf Fantasie­englisch mit der Kar­tenverkäuferin radebrechte. Aus Mitleid fragte ich ihn auf Deutsch, ob ich ihm helfen könnte. Er nahm meine Hilfe an, bekam seine Karte und erklärte mir mit einer beeindruckenden Portion Herablassung, ich würde zwar mit einem Akzent Deutsch sprechen, aber immerhin gar nicht so schlecht. Danach schämte ich mich nie wieder. 

Der einzige Bildungsort, an dem mein Deutsch nicht als defizitär betrachtet wurde, war das eben erwähnte Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Dort spielte mei­ne Herkunft keine Rolle mehr. Mein vermeintlicher Ak­zent wurde nicht thematisiert, und die Unzulänglichkei­ten meines Schreibens wurden zu keinem Zeitpunkt auf meinen Spracherwerb geschoben. Ich durfte mich ein­fach im Schreiben ausprobieren. Migrantische Erfolgsgeschichten sind leider eine Sa­che für sich. Sie versichern etwas, das selbstverständ­lich sein sollte, und markieren zugleich die eigene Nicht­ zugehörigkeit. Sie sind der vermeintliche Beweis dafür, dass es in Deutschland wirklich jede*r schaffen kann – wenn man sich nur genügend Mühe gibt. Die Verantwor­tung wird so dem Einzelnen übertragen, und man muss sich nicht mehr mit dem großen Ganzen, wie etwa der strukturellen Benachteiligung, befassen. Wenn immer wieder vonseiten der Mehrheitsgesellschaft betont wird, dass es der oder die aus einer benachteiligten Gruppe »geschafft« habe und es also nicht so schwer sei, muss man sich weniger damit auseinandersetzen, dass man selbst einen solchen Aufstieg oder auch nur den Erhalt der eigenen Privilegien und des sozialen Status geschafft hat, ohne dass es einer vergleichbaren Anstrengung oder überhaupt eines Aufstiegs bedurft hätte.

Eine Freundin von mir sprach mit ihrer Tochter seit ihrer Geburt Russisch. Das Kind besuchte eine bilin­guale Krippe und später die musikalische Früherzie­hung in Prenzlauer Berg, einem Stadtteil von Berlin, der für seine überfürsorglichen Mütter mit schwäbischer Binnenmigrationsgeschichte bekannt ist. Meiner Freun­din wurde dort mitgeteilt, dass ihre zweijährige Tochter schlecht Deutsch verstehen würde. Sie wollte nicht, dass auch ihre Tochter als eine »Ausländerin« gelesen wurde. Das Kind sollte dazugehören und es leichter haben als sie selbst. An diesem Tag fing meine Freundin an, mit ihrer Tochter nur noch Deutsch zu reden.

Bekannte erzählten mir einmal verstört von einem Elternabend, an dem eine Deutschlehrerin mit einem türkischen Vornamen den Eltern lang und breit erklär­te, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten: Sie sei in Deutschland geboren, habe hier studiert und sei mit einem Deutschen verheiratet. Vor allem die Wahl ih­res Ehemanns sollte offenbar ihre Qualifikation unter­streichen. Die Situation in Deutschland ist eine merk­ würdige: Zum einem werden gute, wenn nicht sogar ausgezeichnete Deutschkenntnisse vorausgesetzt, zum anderen sind die Menschen doch überrascht, wenn die­se dann von einer Person of Colour erbracht werden. Die Lehrerin glaubte, die ethnische Zugehörigkeit ihres Man­ nes bemühen zu müssen, weil sie davon ausging – wahr­scheinlich hatte sie bereits entsprechende Erfahrungen gemacht –, dass ihr Lehramtsstudium und ihr Staats­ examen sie in den Augen der Eltern ihrer Schüler*in­ nen nicht genügend qualifizierten.

 

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Die Macht der Mehrsprachigkeit - Über Herkunft und Vielfalt

von Olga Grjasnowa, Duden Verlag, 128 Seiten, €12

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