WAS IST MODE? LOW LEVEL PARANOIA
Interview mit Katja Eichinger
Mit ihrem neuen Buch “Mode und andere Neurosen” überholt Katja Eichinger alle Influencer*innen und Aktivist*innen dieser Welt. In zehn kleinen Essays, hardcore ehrlich und flirtatious zugleich, beschreibt sie die Beziehung von Kleidung und Begehren, wie man es noch nicht gelesen hat. Sie schreibt über ihr Leben. Sie schreibt über maßlose soziale Ungleichheiten. Und sie erklärt den Blick, den wir haben, wenn wir einen Instagram-Profil unbewusst stalken.
Mit ihrem Humor schreibt Katja Eichinger eine Klassenanalyse, die allen gerecht wird: Menschen, die Botox benutzen, Menschen, die Mode lieben und Menschen, die am liebsten alle Normativitäten abschaffen würden. Wie ich. Das Buch hat mich dazu bewegt, die Ökonomie der Likes, in der auch diese Straßenzeitung zirkuliert, in einem Gespräch zu thematisieren. So begann dieses E-Mail-Ping-Pong über den 18. Brumaire “in Zeiten von in Zeiten von” (Florentin Schumacher).
AWC: Katja, "Was ist Mode?“ fühlt sich wie eine Fangfrage an.
KE: „Was ist Mode?“ brummt im Hintergrund meines Buchs wie eine low level Paranoia.
Das Buch bietet weder eine chronologische noch eine hermeneutische Art, Mode zu verstehen, sondern immer in Bezug auf die Psychoanalyse. Wieso?
Weil ich so die Welt sehe. Ich habe bei Laura Mulvey studiert, der Feministin und Filmtheoretikerin, die mit ihrem Essay „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ Freud in die Film- und Medientheorie eingeführt hat. Sie war jenseits meiner Familie wohl die prägendste Person in meinem Leben. Durch sie habe ich erst wirklich angefangen zu denken. Was ich so an ihr schätze, ist ihre Lust an Komplexitäten. Mich interessiert nicht so sehr das kunsthistorische Einordnen und Abhaken. Sondern viel mehr diese wabernden Strömungen von soziokulturellen Widersprüchen und Begehren. Und wenn wir über Begehren reden, dann ist Psychoanalyse für mich immer noch eine wundervolle Sprache.
Das Buch ist voller Zitate, die nicht unbedingt als Referenz zu den jeweiligen Kapiteln fungieren, sondern als Öffnung zu anderen Kontexten. Wie hast Du die ausgewählt?
Rein assoziativ. Wie auch das Buch selbst. Der Aufbau Verlag erlaubte mir ein Buch zu schreiben, in dem ich nicht nur steile Thesen aufstellen, sondern auch meinen Gedankengängen frei folgen durfte. Ich war an keinerlei Linearität gebunden, sondern durfte so schreiben, wie ich denke. Das war ein riesiges Geschenk. Und zum Beispiel bei Wallstreet-Bankern denke ich nun mal zuerst an „American Psycho“. In meiner Gedankenwelt verbindet sich ständig „high brow“ mit „low brow“, da existieren Joan Collins und Jürgen Habermas gleichermaßen glücklich nebeneinander. Im normalen Gespräch muss ich mich da immer zensieren. Im Buch hatte ich völlige Freiheit.
“Mode und andere Neurosen” wird als Sachbuch verkauft. Was erklärt es uns genau? Den heutigen Klassenkampf? Eine neue Definition von Öffentlichkeit? Die Krise der Identitäten? Und wenn all das, warum unter dem Begriff von Mode?
Ich hoffe, dass ich gar nichts erkläre, sondern vielmehr zum Nachdenken und Widersprechen anrege. Noch besser wäre, wenn die Leser nach der Lektüre ihre eigenen Thesen aufstellen. Ich habe nie das Gefühl, dass ich irgendetwas weiß oder irgendetwas verstanden habe. Das Leben ist ein ständiges Suchen und Scheitern. Das ist doch das Schöne.
Aber wird nicht die Freiheit, das eigene Leben schön zu gestalten, durch die Annahme basaler Triebe, wie zum Beispiel die Verehrung einer Hermes Tasche als Symbol für die eigene Vagina, wieder eingegrenzt?
Was ist an basalen Trieben unfrei?
Was haben Handtaschen, Hermès und Habermas, Kim Kardashian und Caspar David Friedrich mit deinen frühesten Kindheitserinnerungen gemeinsam?
Bei ihnen geht es aus meiner Sicht um Begehren, Träume und Fantasien. Und wonach wir uns sehnen, wohin wir uns träumen, was wir als Hindernis für unsere Sehnsüchte empfinden, was wir als Liebe interpretieren, all das erfahren wir zum ersten Mal in der frühen Kindheit. Es sind diese frühkindlichen Erfahrungen, die uns meiner Ansicht nach prägen und die wir ein Leben lang wiederholen, meistens ohne dass es uns bewusst ist.
Ist der Freiheitsbegriff von Sneakers nicht zu trennen?
Vielleicht ändert sich das langsam, einfach weil Streetwear als Modegenre im Luxussegment eine Eigendynamik entwickelt hat. Aber momentan gehört eine diffuse Vorstellung von Freiheit immer noch zur Marketingsprache des Turnschuhs.
Ich denke an Kanye West und “Yeezy” und diese unheimliche Vermarktung von Religiosität und Unikaten aus fetischierten Stoffen und Kautschuk. Diese Sneakers sind, zum Beispiel, das Gegenbild zu Freiheit.
Der Kanye-West-Kardashian Komplex ist so vielschichtig. Ein faszinierendes Phänomen unserer Zeit, in dessen Zentrum aber immer noch der Amerikanische Traum steht.
Behandelst Du Dich selbst als eigenen Fall, als gesellschaftliches Konstrukt, oder liegt im Sachbuch doch was ganz autobiographisches?
Ich wollte kein kunsthistorisches oder rein akademisches Sachbuch schreiben. Es wäre langweilig gewesen, mich hinter einer vermeintlichen Objektivität verstecken. Dadurch, dass wir Mode auf der Haut tragen und sie mit unserer Identität verwoben ist, ist sie zutiefst persönlich, ja intim. Und das obwohl sie uns gleichzeitig in der Gesellschaft platziert und Teil eines sozio-kulturellen Rituals ist. Das ist eben auch so eine der vielen Ambivalenzen, die der Mode innewohnt. Auf mein Buch übertragen schien es mir deswegen auch richtig, ein wenig von mir zu erzählen. Da ist dann auch sofort klar, dass ich mit meinen Essays keinen allgemeingültigen Anspruch erhebe. Die erste Hürde beim Schreiben ist auch immer, sich nicht selbst zu langweilen. Da haben diese Anekdoten geholfen.
Was für eine Verhaltensstörung ist denn die Fixierung auf Mode, die Du in den öffentlichen Räumen von Los Angeles, Nizza, London und Paris empfindest?
Ich weiß nicht, ob Verhaltensstörung das richtige Wort ist. Aber an diesen Plätzen schlägt einem immer wieder ein Lebensgefühl entgegen, das J. G. Ballard so wunderbar in seinen dystopischen Romanen beschrieben hat. Ich bin fasziniert von dieser Konsum-Bourgeoisie, beobachte sie gerne.
Neurosen sind ja Verhaltensstörungen, und J. G. Ballard zerstört mit seiner Science-Fiction alle mögliche Chancen der Bourgeoisie, als faszinierend dazustehen.
Es kommt darauf an, was Du faszinierend findest. Ohne die Abgründe der Bourgeoisie, beziehungsweise des Spannungsverhältnisses zwischen Fassade und dem Geheimen, gäbe es wahrscheinlich keine Psychoanalyse. Ich mag diese Abgründe. Aber ich mag auch das ganz profane, alltägliche Begehren und Scheitern. Überall verfolgt uns das Narrativ des Besonderen, des Außergewöhnlichen. Ich finde das mittlerweile so ermüdend.
Wie lassen sich Trends beschreiben, ohne moralische Urteile dazwischen zu schieben?
Ich finde die Scheuklappen-Moral wenig hilfreich in der Analyse oder Beschreibung von irgendetwas. Vor allem, weil die jeweilige Moral an sich meist ein sehr interessantes und Analyse-wertes Phänomen ist.
"Die Freiheit, die wir meinen“, hieß mal eine Vorlesung von Jürgen Habermas in Kyoto. Welche Elemente dieser gesellschaftlichen Analyse überträgst Du in diesem Sachbuch?
In Habermas‘ Rede geht es um die philosophische Diskussion um Willensfreiheit, die von der Hirnforschung ausgelöst wurde. Also quasi eine Neuauflage der alten „nature“ vs. „nurture“ Debatte. Habermas spricht sich dabei für einen Perspektivendualismus aus. Das gefällt mir sehr. Denn genau den versuche ich auch, in meinem Buch zu wahren. Mein Buch ist eine Ode an die Ambivalenz.
Da, wo es am dringlichsten ist, zu verstehen, was man gegen die Sucht nach billigen Waren tun kann, fliehst Du schnell zum nächsten Kapitel. Wie kann man pars pro toto nachhaltig die Schäden begrenzen, die große Modekonzerne verursachen?
Das Buch liefert bewusst keinen Schlachtplan, und es ist auch kein Guerilla Handbuch zur Fast Fashion-Bekämpfung. Das würde nicht zur Form des Essays passen. Dafür gibt es doch zum Glück Medien wie Arts of the Working Class!
Was wäre ein gesundes Verhältnis zwischen Feminismus und kosmetischer Chirurgie?
„Gesund“ ist so ein schwieriges Wort. Da ist man schnell beim „gesunden Menschenverstand“ als konservatives Knebelargument. Ich versuche bewusst, meine persönliche Abwehrhaltung gegen kosmetische Chirurgie nicht Überhand nehmen zu lassen. Feminismus, der mit Widersprüchen und Ambivalenzen leben kann, der nachsichtig ist und Stärke in ihren seltsamsten Formen erkennt, ist für mich ein positiver Feminismus.
Du hast so recht. Aber an welcher Stelle kippen Schönheitsideale in Beliebigkeit um?
Wenn die Persönlichkeit und gelebtes Leben hinter plastischer Perfektion verschwinden, ist das sicherlich problematisch. Natürlich besitzen durchoperierte Frauen ihre ganz eigene Fragilität, nämlich die der Angst. Die birgt für mich ihre ganz eigene Faszination. Und manche finden das auch schön. Aber vielleicht nicht die Art von Schön, die beabsichtigt war.
Leben ist das Gegenteil von Luxus. Warum empfindet die Mehrheit genau das Gegenteil?
Lacan hat gesagt „Ich begehre also bin ich.“ Luxus gibt uns etwas, nachdem wir uns sehnen können. Dadurch fühlen wir uns lebendig. Somit ist Luxus für viele Menschen ein Puzzlestein ihrer Erfahrung, am Leben zu sein. Auch wenn dahinter eine Sehnsucht nach dem Tod steht.
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‘Mode und andere Neurosen’ erschien in der Quarantäne, kurz nach unserer ersten Merch-Kollektion: Lokal bezogen, umweltfreundlich und von unserem prekären, aber unternehmerischen Team handbedruckt. Diese süßen Einzelstücke enthalten Truisms von der Titelseite unserer Druckausgaben, die auf sanft benutzte Kleidungsstücke siebgedruckt sind. Diese Teile trennen das Modell des Massenkonsums und den modernen Prozess der Identitätsstiftung auf – so wie Katja, wenn sie über die Vagina Dentatas aka Birkin Bags der Superreichen spricht.
Katja Eichinger studierte am British Film Institute und arbeitete als Journalistin in London, u.a. für Vogue, Dazed & Confused und die Financial Times. Nach ihrem Bestseller „BE“, der Biografie ihres verstorbenen Mannes Bernd Eichinger, ist „Mode und andere Neurosen“ ihr neues Sachbuch. Neben ihrer Arbeit als Autorin produziert Eichinger Musik, präsentiert Ausstellungen und fotografiert. (Aufbau Verlag)