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NOTES FROM MINSK

Der Mechanismus einer Machtverschiebung.

Nachdem wir in den letzten Jahren zunehmend Zeugen von Massenprotesten geworden sind, bei denen hinter emotionalen Aufrufen nur selten das ganze Ausmaß politischer Komplikationen, Opportunismen und deren Konsequenzen zum Vorschein kommt, lohnt es sich einen genaueren Blick auf die Chronologie der Präsidentschaftswahlen in Belarus zu werfen.

Hier, wo die Kluft zwischen neoliberalen Interessen und einem sozialistischen Staatsapparat zunehmend wächst und im Zwischenraum nationalistische Sentimente wachsen, steht viel auf dem Spiel: Kein postkommunistischer Staat blieb nach der Transformation von Armut, Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Chaos verschont außer Belarus.

 

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Im Frühjahr begannen die Teilnehmer des Präsidentschafts Wahlkampfes in Belarus - Gegner des seit 1994 regierenden Alexander Lukaschenko - die Strategie des gewaltlosen Widerstands anzuwenden, mit dem Ziel einer "farbigen Revolution", d.h. eines friedlichen Übergangs der Macht im Staat in die Hände der Anführer der Demonstranten. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden solche Szenarien in einer Reihe von Ländern umgesetzt, und es scheint, dass auch in Belarus ein Machtwechsel unausweichlich ist.

Der Leiter des Center for Applied Nonviolent Action and Strategies (CANVAS), Srđa Popović, hat eine Reihe von Regeln aufgestellt, die der Otpor-Bewegung - deren aktives Mitglied er war - zum Sieg über Milosevic in Jugoslawien im Jahr 2000 verhalfen [1]. Die Gegner der Behörden müssen eine Massenbewegung mit einer offensiven Strategie schaffen und die Kommunikation mit allen Teilen der Bevölkerung herstellen. Eine solche Organisation sollte Menschen anziehen, ein positives Image haben und über ein Ausbildungssystem für Aktivisten und neue Rekruten verfügen. Später, bei TEDxKrakau [2], reduzierte er die Anforderungen auf nur drei Punkte, nachdem er die Erfahrungen mit ähnlichen Abläufen in anderen Ländern analysierte: (1) die Fähigkeit der Protestierenden, sich zu vereinigen, (2) ihr Festhalten an einem klaren Plan und (3) die Verpflichtung, sich strikt an eine Strategie des gewaltlosen Kampfes zu halten.

Die Analyse entlang all dieser Regeln durch die belarussische Opposition kann eine Antwort auf die Frage nach ihren politischen Perspektiven geben.

Die Gegner der amtierenden Regierung traten, weitgehend aus objektiven Gründen, nicht erneut als Partei oder Bewegung an, sondern als hastig zusammengestellte Koalition "rechter Kräfte". Alexander Lukaschenkos Rivale aus der Opposition war 2001 Wladimir Gontscharik, in dem "die überwältigende Mehrheit derer, die mit dem derzeitigen Kurs nicht zufrieden sind und sich um die Zukunft ihrer Kinder sorgen, noch keine klare, überzeugende Alternative sieht" [3]. 2006 war es Alexander Milinkewitsch, dessen Rolle als "einziger Führer der demokratischen Kräfte von Belarus" auch unter den Gegnern der Machthabenden unmittelbar nach den Wahlen ernsthaft in Frage gestellt wurde [4]. Folglich sind 2010 neun Kandidaten zu Lukaschenkos Gegnern geworden. Letzteres fand auch die Aufmerksamkeit von Popović: "Lukaschenko hat neun Rivalen bei den Präsidentschaftswahlen. Aber das Ergebnis ist bereits klar". [5]

Für den Architekten der "farbigen Revolutionen" ist es offensichtlich, dass eine Person bei den Wahlen gegen den "Diktator" kämpfen sollte. "Otpor" verbrachte 10 Jahre damit, die Anführer von 18 Oppositionsparteien zu vereinen und einen gemeinsamen Kandidaten gegen Milosevic - Kostunica - aufzustellen.

Im Juli 2020 registrierte die weißrussische, zentrale Wahlkommission fünf Kandidaten, darunter das derzeitige Staatsoberhaupt, ohne die wichtigsten "Akteure" aus der Opposition. Bereits im Mai wurde Sergej Tichanowskij, ein Geschäftsmann und Autor des Youtube-channels "Land fürs Leben", wegen angeblicher Übergriffe auf Polizeibeamte verhaftet. Im Juni wurde der Bankier, der ehemalige Chef der Belgazprombank Viktor Babariko, wegen des Verdachts auf Finanzbetrug verhaftet. Die zentrale Wahlkommission lehnte es auch ab, Valery Tsepkalo als Kandidaten für den Präsidentschaft zu registrieren (er wird später über Moskau nach Kyiv fliegen).

Infolgedessen wurde Svitlana Tichanowskajaeher zufällig die einzige Kandidatin aus der Opposition. Auf den Schultern der Ehefrau des Bloggers, die bisher nie politisch aktiv war, eine Übersetzerin von Beruf ist und in der letzten Zeit als Hausfrau tätig war, lag die Organisation der "farbigen Revolution". Sie hatte kein eigenes politisches Programm [6], verwies aber die Interessierten auf das von unabhängigen Experten zusammengestellte Paket für Transformationen von Wirtschaft und Gesellschaft [7]. Dieses Dokument sieht eine groß angelegte Privatisierung im Land im Interesse der transnationalen Konzerne vor, Massenentlassungen von ArbeiterInnen aus "ineffizienten" Staatsunternehmen, aber auch Erleichterung der Registrierung von Selbständigen, Privat- und Kleinunternehmen.

 

Taktiken der Offensive

Die primäre Eigenschaft einer erfolgreichen Bewegung ist laut Popović die Offensivtaktik, d.h. die Übernahme der Initiative, um dem Feind im politischen Kampf einen Schritt voraus zu sein. In einer Reihe seiner Bücher beschreibt er ausführlich, wie "Otpor" die Regierung mit seinen Aktionen, mit Spott und Hohn provozierte. Zum Beispiel, stellten Aktivisten einen Kanister mit dem Bild von Milosevic ins Zentrum der Stadt und boten den Streikwilligen an ihn zu schlagen. Daraufhin "verhaftete" die Polizei den Kanister. Solche Auftritte festigten ein heroisches Bild der Bewegung und trugen dazu bei, Verbündete zu finden. In Belarus wurde auch dieser Weg eingeschlagen. Im Frühjahr begannen im Land Flashmobs: Unterschriftensammlung für Lukaschenkos Gegner [8], Verspottungs-Anrufe bei der Polizei, mit der Nachfrage, wie man “ohne Festnahme an diesen oder jenen Punkt der Stadt kommt” [9], Tragen von T-Shirts mit der Aufschrift PSICHO-3% (gemeint: Psychose; in Russischen - Psichoz, in kyrillischen Schrift Z ist gleich Ziffer 3)[10]. Einige "Rebellen" sammelten in sozialen Netzwerken Informationen über die "Diener und Sklaven des Regimes" - Journalisten, Beamte, Strafverfolger und Vertreter der Wahlkommissionen der Bezirke. Dabei kam es zu Kuriositäten: In Gantsewitschi hinterließ ein unbekannter "Radikaler" einen Scheisshaufen auf dem Fussabtreter an der Wohnung eines Polizisten [11]. Allgemein wurden Flashmobs populär.

Diese Taktik erwies sich als erfolgreich, vor allem wegen des Mangels an politischen Freiheiten im Land. Viele Jahre lang verbot die Regierung Straßenkundgebungen oder "verlegte" diese auf verlassene Plätze. Im Gesetz über Massenveranstaltungen [12] gibt es keine Erwähnung der Ein-Mann Streikposten. Bei aktiver Teilnahme an den Protesten kann man von der Universität verwiesen werden oder eigenen Arbeitsplatz verlieren. Deshalb versuchte die Opposition, die Aktionen so friedlich und legal wie möglich zu gestalten, um mehr Menschen mit kreativen Ideen anzuziehen.

 

Mobilisierung

Auf die Flashmobs folgten Massenproteste auf den Straßen, die durch die Verhaftung von Tichanowskij und Babariko zusätzlich "aufgeheizt" wurden. Die Verhaftung des Bankiers sah wie die Ausschaltung eines Rivalen aus, und die Verhaftung des Bloggers wurde vom Staatsoberhaupt selbst kommentiert und zugegeben - "Ich habe denen ein Signal gegeben", sagte er [13]. Tausende von Menschen gingen im Mai, Juni und Juli in den Städten auf die Straße und forderten die Freilassung ihrer Kandidaten und deren Teilnahme an den Wahlen. Die Aktionen wurden von Verhaftungen begleitet [14].

"Otpor", erklärt Popović, war vorsichtig bei der Auswahl der Verbündeten, wohl wissend, dass nicht alle die Strategie der gewaltlosen Kampfmethoden teilen. Die Demonstranten bei den Kundgebungen in Minsk am 14. Juli haben diesen Satz vergessen. Am Tag, an dem die zentrale Wahlkommission die Registrierung von Babariko und Tichanowskij als Präsidentschaftskandidaten ablehnte, beschloss eine unbekannte Person - ob ein Provokateur oder nicht - mit einem Offizier aus der Spezialeinheit der Polizei die Kräfte zu messen. Die staatlichen Medien nutzten dies sofort aus und erklärten jeden, der zu den Kundgebungen ging, zu einem Kriminellen.

Wie weitere Ereignisse zeigten, war der Zeitraum Juni bis Anfang Juli der "Höhepunkt der Oppositionsbewegung" in der laufenden Kampagne. Der Protest erfuhr keine qualitative Weiterentwicklung, insbesondere aufgrund des Mangels an attraktiven sozialen und wirtschaftlichen Ideen im Programm der alternativen Kandidaten.

Das BIP in Belarus wächst mit 0,3% weit langsamer als der Weltdurchschnitt. Das Niveau des Durchschnittsgehalts in der Hauptstadt stieg im Mai 2020 im Vergleich zu 2019 um 20% auf 729,7 Dollar zum aktuellen Wechselkurs [16], im nationalen Durchschnitt auf 505,9 Dollar - das Wachstum betrug dabei 8,7%. Dies ist deutlich mehr als im südlichen Nachbarland Ukraine. Nach Angaben von Derzhkomstat (Hauptstatistikamt der Ukraine) erhielt man in der Ukraine im Mai 2020 durchschnittlich 394 Dollar pro Monat, in Kiew - 568 Dollar. Beide Werte sind aber deutlich niedriger als beim westlichen Nachbarn, Polen. Nach Angaben des dortigen Hauptstatistikamtes (Główny Urząd Statystyczny), betrug der Durchschnittsverdienst im Mai 1,294 Dollar. Das Gehalt in Minsk entspricht dem offiziellen Durchschnitt für Russland. So erhielten die russischen Bürger nach Angaben des Hauptstatistikamts im Mai durchschnittlich 49,3 Tausend Rubel, was nach dem aktuellen Wechselkurs etwa 700 Dollar ist. Das Realeinkommen ist allerdings deutlich niedriger.

Es ist schwierig, in einem Staat, in dem es keinen starken Rückgang des Lebensstandards, keine grassierende Kriminalität, keine eklatante soziale Ungleichheit und keine lautstarken Korruptionsskandale gibt, eine offensive Taktik zu verfolgen und dabei mit Massenmobilisierung zu rechnen. Nichtsdestotrotz versammelten sich am 29. Juli bei der Kundgebung von Tichanowskaja nach Angaben des Innenministeriums 18.000 - nach Angaben der Menschenrechtsaktivisten bis zu 60.000 Menschen, an einem für diesen Zweck nicht unbedingt günstigen Ort in Minsk. Dies sind für einen Teilnehmer am Präsidentschaftswahlkampf nach lokalen Maßstäben hohe Zahlen.

 

"Es ist schwierig, in einem Staat, in dem es keinen starken Rückgang des Lebensstandards, keine grassierende Kriminalität, keine eklatante soziale Ungleichheit und keine lautstarken Korruptionsskandale gibt, eine offensive Taktik zu verfolgen und dabei mit Massenmobilisierung zu rechnen."

 

Staatliche Medien, die vollständig vom amtierenden Präsidenten kontrolliert werden, berichten in der Regel nicht über solche Ereignisse. Schweigen erzeugt Misstrauen und den Wunsch, die "Wahrheit" in alternativen Informationsquellen zu suchen [17]. Ein typisches Bild im Fernsehn ist ein Sä- oder Erntesujet, in dem Journalisten auf die Fürsorge der Regierung für die Menschen hinweisen, dem Zuschauer Stolz auf das Land und die Arbeiter vermitteln, sowie Loyalität gegenüber der Regierung und dem Präsidenten erwecken.

Die Opposition hat sich möglicherweise auch der öffentlichen Unzufriedenheit über die unpopulären Methoden der Regierung gegen COVID-19 bedient. Natalia Radina, Chefredakteurin der Website "Chartia-97" (der Redaktionssitz ist in Warschau), schlug sogar vor, den UN-Sicherheitsrat einberufen, und begründete dies mit der sich verschlechternden epidemiologischen Situation im Land: im Frühjahr schlug Lukaschenko vor, die "Brutstätte" der Epidemie zu bekämpfen, anstatt eine groß angelegte Quarantäne einzuführen, die in den meisten Ländern der Welt beschlossen wurde. Diese Maßnahme ermöglichte es den Unternehmen, ihre Arbeit fortzusetzen und eine Aussaatkampagne auf dem Land durchzuführen. Massenveranstaltungen, darunter die Fußballmeisterschaft, fanden statt. Lukaschenko verstand sehr gut, dass eine andere Entscheidung seine Gegner gestärkt hätte: Tausende Arbeitslose wären zum Protest gegangen.

Nach der Entscheidung, "auf seine Weise" gegen das Coronavirus zu kämpfen, sah sich das Land einem starken Informationsdruck aus dem Ausland ausgesetzt. Zunächst einmal aus Russland. Das ORT-Filmteam, das eine Propagandafilm über die angebliche Verschleierung des wahren Ausmaßes der Epidemie durch die belarussischen Behörden drehte, musste die Republik verlassen [18]. Kurz darauf, am 9. Mai erhob sich ein großer Teil der russischen Politologen, und kritisierte die jährliche 9. Mai-Militärparade in Minsk als unangemessen. Lukaschenko beschuldigte anschließend die Telegram-Kanäle "Nezygar" und “Babitsch’s Strukturen" (Babitsch ist ein ehemaliger Botschafter und außerordentlicher Vertreter des russischen Präsidenten in Belarus) der Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes. [19]

Der Preis für das Ignorieren der Forderung der Opposition nach restriktiven Maßnahmen zur "Rettung von Menschenleben" offenbarte sich auf der Juli-Demo von Tichanowskaja, die nicht zum Vorbild für den Einsatz individueller Schutzausrüstung und einer sozialer Distanz von 1,5 Metern wurde.

 

Kommunikation mit der Öffentlichkeit und Aktivist*innen

Die belarussischen Behörden versuchen seit vielen Jahren, die Finanzierung der Opposition aus dem Ausland zu stoppen. In der aktuellen Kampagne haben sie die Zeit für die Unterschriftensammlung so weit wie möglich verkürzt, was zum Teil die Zusammensetzung der Teilnehmer bestimmte [20]. Die Oppositionspolitiker mussten deswegen Informationsressourcen mit klarer neoliberaler und nationalistischer Rhetorik als Propaganda nutzen: tut.by, Radio Liberty, kyky.org, citydog.by, The Village Belarus, naviny.by und viele andere, sowie das Netz des Telegram-Kanals NEXTA des populären Bloggers Stepan Putilo und des ehemaligen Journalisten des Radios Liberty Roman Protasewitsch, der seit November letzten Jahres Propaganda aus dem Ausland betreibt.

Wenn zu den Anhängern von Babariko und Zepkalo Wohlhabende, Unternehmer und Intellektuelle gehören, so richteten sich die Videos von Sergey Tichanowskij eher an Kleinbürger und Arbeitslose. Der oppositionelle Nachrichtendienst "Nasha Niva” untersuchte die Finanzierung seines Youtube-Kanals, die sich als ziemlich düster herausstellte [21]. In der Wohnung seiner Mutter fand die Polizei 900 000 US Dollar. Darauf erklärte die Ehefrau von Tichanowskij, dass mit einer solchen Summe ihr Mann sich “wahrscheinlich nicht für irgendwelche Rechte einfacher Menschen einsetzten würde" [22].

Durch den Bürgerkrieg in der Ukraine und die Krim-Annexion begann sich die öffentliche Meinung der Belarussen in Richtung des "ruhigen" und berechenbaren Westens zu drehen. Zusätzlich wurden die Streitigkeiten zwischen Moskau und Minsk über die Preise für Energieressourcen und die Zulassung von Produkten des agroindustriellen Komplexes auf den russischen Markt zu einem Impuls für das Anwachsen nationalistischer Gefühle auf der einen Seite, und des Großmacht-Chauvinismus auf der anderen Seite. Die Anschuldigungen der belarussischen Produzenten durch Rospotrebnadzor (Russisches Verbraucherschutzamt) entpuppen sich oft als Kampf gegen Konkurrenten. Mehr als einmal wies Lukaschenko auf die Rolle von Unternehmen hin, die mit der Familie des ehemaligen Chefs des Landwirtschaftsministeriums Alexander Tkatschow in diesem Fall verbunden sind [23]. In den vergangenen fünf Jahren verhielten sich die staatlichen Massenmedien von Belarus wesentlich ausgeglichener, als jene Russlands, die wenig Manövrierfähigkeit besaßen. So wurde zum Beispiel die Inhaftierung von Soldaten von PMC "Wagner" in einem Sanatorium in der Nähe von Minsk, von Experten so korrekt wie möglich kommentiert [24].

 

"Da der Präsident oft sozialistische Phraseologie verwendet, nähren Verhaftungen auf der Straße nicht nur Ressentiments derjeniger, die mit seiner Politik unzufrieden sind, sondern auch diejenigen, die gegen Sozialismus sind. Ein junger kritischer Protestler gegen die Polizeigewalt, verwandelt sich oft spontan in einen Antikommunisten, anschließend in einen Neoliberalen oder Nationalisten."

 

Trotz aller Bemühungen der Lukaschenko-Gegner schenkte die "internationale Gemeinschaft" dem Präsidentschaftswahlkampf in Belarus zunächst keine große Aufmerksamkeit. Nach der Auflösung der größten Protestkundgebung in der Geschichte des Landes Ende 2010 beschränkte sich die Europäische Union auf die Verhängung politischer und wirtschaftlicher Sanktionen gegen die Spitzenfunktionäre des Staates. Um solche Maßnahmen einzuführen, müssen im Land Massenschlägereien seitens Polizei stattfinden. Dies geschah noch einmal am 9. August.

Da der Präsident oft sozialistische Phraseologie verwendet, nähren Verhaftungen auf der Straße nicht nur Ressentiments derjeniger, die mit seiner Politik unzufrieden sind, sondern auch diejenigen, die gegen Sozialismus sind. Ein junger kritischer Protestler gegen die Polizeigewalt, verwandelt sich oft spontan in einen Antikommunisten, anschließend in einen Neoliberalen oder Nationalisten. Verbote führen entweder zur Gleichgültigkeit gegenüber Politik oder zu Infantilismus - der Bereitschaft, jeden Rivalen Lukaschenkos zu unterstützen. Dies erleichterte die Kommunikation von Opposition mit ihren Anhänger erheblich.

 

Die Erschaffung eines positiven Bildes der Protest-Bewegung

Und doch hätte Viktor Babariko der Hauptkanidat bei den laufenden Wahlen sein sollen. Tatsächlich war er der Grundstein des positiven Bildes der Bewegung. Die liberale Intelligenzia der Hauptstadt kannte den Bankier als Mäzen. Er kaufte für seine Sammlung zeitgenössische Kunst und modernistische Gemälde von Künstlern aus Belarus. Im Interview gelang es Babariko, ein radikaler Nationalist und Befürworter normaler Beziehungen zu Russland gleichzeitig zu sein, über den Bau des KKW Astrawets zu schweigen oder zu sagen, dass er nicht gegen das Hervortreten weißrussischer Oligarchen sei.

Der Politiker Uladzimir Milau, der der Anti-Lukaschenka-Koalition sympathisiert und lange Zeit mit Gazprom Russland arbeitete, schließt die Unabhängigkeit von Babariko völlig aus [25]. Trotz der großen Zahl von Interviews die der Bankier gegeben hat, schwieg dieser über sein Wirtschaftsprogramm und berief sich auf den Mangel an Daten zur Analyse.

Aber etwas sagte er doch. In einem Interview schlägt Babariko die Entnationalisierung des Bildungssystems vor [27], nach dem skandinavischen Modell der nordischen Länder.

Im Frühjahr geriet der Bankier in ein Skandal im Zusammenhang mit der Firma seines Sohnes Eduard, der später sein Wahlkampfhauptquartier - die Ulej Plattform - leitete. Die Belgazprombank stellte dieser Plattform große Spenden für die Veröffentlichung von Büchern von Swetlana Alexijewitsch zur Verfügung. Es stellte sich heraus, dass der Online-Dienst 10% der Überweisungen erhielt, was vielen Menschen nicht bekannt war [30].

Im Juni warfen die Behörden Babariko Steuerhinterziehung vor, sowie den Versuch 400 Millionen Dollar über die litauische ATV-Bank aus dem Land abzuheben. Der Bankier steht nun unter Arrest. [31]

Die geläufigen wirtschaftlichen Pläne von Lukaschenkos Rivalen wurden von einer anderen Kandidatin zusammengefasst. In einem Interview mit der Zeitung "Belarusians and Market" sagte Anna Kanopatskaja, sie sei "eine konsequente Verfechterin der Entstaatlichung aller Wirtschaftsbereiche ohne Ausnahme: vom petrochemischen Komplex über den Bergbau bis hin zur Landwirtschaft und Luftfahrt"[32].

Die Hauptwaffe und gleichzeitig ein Laster im Lager von Lukaschenkos Gegnern waren verfälschte Informationen - zum Beispiel, über die extrem niedrige “reale” Anhängerschaft jetzigen Präsidenten - 3%. Ein kleiner Laden in der Hauptstadt "Simbal" fing sogar an, T-Shirts mit jener Aufschrift "PSIKHO3%" zu verkaufen. Euronews strahlte die Nachricht von Lukaschenkos 3%iger Anhängerschaft aus, entschuldigte sich aber dafür später und entfernte die Nachricht [33].

Und obwohl solch fiktive Statistiken den Protestierenden Zuversicht gaben, scheinen 24% im traditionell besonders oppositionellen Minsk durchaus real zu sein [34]. Die Falschmeldung über 3% offenbarte das Problem der belarussischen Soziologie. In der Republik verkündet nur der Staat das Rating der Politiker. Und da es wenig Vertrauen in solche Staatsstatistiken gibt, gibt es viele die so genannten "Volksbefragungen" auf Online-Ressourcen der Opposition glauben schenken.

Die Rede einer Vertrauensperson Tichanowskaja's in Hrodna mit einem Lob für Adolf Hitler war jedoch zweifelsfrei echt [35]. Und wenn man sich vor Augen führt, wie viel Zeit Tichanowskaja gebraucht hat, um sich von seiner Rede zu distanzieren, entsteht der Eindruck, dass solche Aussagen in den oppositionellen Kreisen keine Seltenheit sind. So beantwortete der NEXTA-Gründer die Frage darüber, was in Belarus besser als in Polen ist:

"In Belarus ist es sauberer. Mir geht es nicht nur um die Straßen, die von diesen armen Menschen gefegt werden. Ich meine auch, dass Belarus rassisch sauberer ist. Ich bin kein Rassist, aber es ist wirklich so. Niemand, sagen wir, will nach Belarus migrieren" [36].

 

Vorbereitung auf Repression und Ausbildungssystem für Aktivist*innen

In seinen Büchern erklärt Popović: Es ist möglich, eine Massenbewegung zu schaffen, wenn ihre Teilnehmer vor Polizeigewalt und Staatsverfolgungen keine Angst haben. Dies erfordert spezielle Seminare, die eine Person auf die mutmaßliche Inhaftierung, den Gerichtsprozess, den Gefängnisaufenthalt usw. vorbereitet. Aber richtige Trainingseinheiten für Tausende von Aktivisten "für Wahlen" fanden in Belarus nicht statt.

Es wurde nur eine Reihe von anonymen Initiativen in dieser Richtung geschaffen. So liefert beispielsweise der Online-Dienst "Zubr" [37] Daten über die Zusammensetzung aller Wahlkommissionen der Bezirke; die Plattform "Ehrliche Menschen" [38] sammelt Informationen über Wahlbeobachtung, Gesetzesverstöße und insbesondere über die Probleme bei der Unterschriftensammlung für alternativen PräsidentschaftskandidatInnen. Der Dienst vermittelt auch Arbeitsplätze für die Opfer von solchen Repressionen. Ein ähnlicher Dienst mit offenen Stellen ist auch auf ByChange [39] verfügbar. Aber Popović betont, dass die Rolle der Internet-Technologien nicht überbewertet werden sollte. Früher oder später sollen die Massen auf die Straße gehen.

Keines der Projekte der "alten" Opposition hat sich als wirksam erwiesen: weder die European Humanities University in Vilnius, die vor 15 Jahren gegründet wurde, um die "neue Elite" hervorzubringen, noch das "Kalinowsky-Programm" für politisch vertriebene Studenten oder der Fernsehsender Belsat. EHU und das Kalinowsky-Programm haben junge Menschen als Schlupfloch für Migration in die EU genutzt [40], und Belsat, der aus Warschau sendet, konnte keine grosse Popularität gewinnen. Typische Handlung: Die Bewohner der Russischen Föderation sind für den Zaren und Befürworter von Gewalt, im Gegensatz zu ihnen wollen die Belarussen Freiheit [41].

Vor fast zehn Jahren besuchte der Autor dieses Textes als Student des "Belarussischen Collegiums" einen Sommercamp zur Ausbildung politischer Aktivisten in Warschau. Ein Essay über "Diktatur" reichte für die Einladung zum Sommercamp aus. Die Ausbildung zukünftiger Oppositionsführer umfasste Vorträge über Menschenrechte, Demokratie, Rede- und Medienfreiheit, Aspekte der Gründung eines NGOs usw. Referenten waren Vertreter von Belsat, bekannte Politikwissenschaftler, Ökonomen und Politiker. Alle Kosten für das Pilotprojekt wurden von den US-Strukturen getragen. Ich war allerdings ziemlich überrascht, als ich dort anstelle von neuen Gesichtern fast ausschließlich etablierte AktivistInnen sah. Zum Verständnis: Nicht nur Studierende, sondern auch FreundInnen der Organisatoren der Reise bekamen Plätze im Flieger. Eine heute recht berühmte belarussische Dichterin las sogar ein selbst verfasstes Gedicht zu Ehren des "Kämpfers gegen das Regime" Milinkewitsch - dem Leiter der Reise.

Unser Treffen mit Vertretern des Polnischen Außenministeriums war jedoch das auffälligste Ereignis im Rahmen des Sommercamps. Eine Beamtin des Ministeriums verkündete feierlich, dass die Polnische Republik nächstes Jahr noch mehr Geld für die Entwicklung der Demokratie in Belarus und des "Kalinowski-Programms" bereitstellen wird. Alle applaudierten daraufhin, aber ich saß da und dachte, dass es eigentlich die Finanzierung eines Putsches ist.

Die aktuelle Situation in Belarus erinnert an jene in der Ukraine in den Jahren 2013-14 - in dem Sinne, dass diejenigen, die mit der wirtschaftlichen Situation, dem Niveau der politischen Freiheiten, der Situation von Bildung, Medizin und Kultur unzufrieden sind, sowie Schutz auf der rechten Seite suchen. Kulturell werden solche Gefühle erfolgreich von der Antikommunistin Swetlana Alexejewitsch geformt, oder US-Amerikanischen Serien wie “Tschernobyl" und der populären Komödie "Kristall", in der kreative junge Menschen sich positiv von der grauen Bevölkerung der Provinz abheben. Am Ende stellt sich heraus, dass, wenn man gegen Babariko ist, man automatisch für Rückkehr des Sowjetunion und des sowjetischen Wirtschaftspolitik einsteht.

In Abwesenheit linker Parteien verlieren die ArbeiterInnen und Angestellten großer Unternehmen eine klare Vorstellung über ihre eigenen Interessen. Viele sind bereit zu Überstunden, trotz gesundheitlichen und privaten Opfer. Sogar manche Rentner sagen: "Belarus sollte nach Europa gehen". Dies wird oft von den Eltern derer gesagt, die bereits in reiche Länder der Europäischen Union ausgewandert sind. Damit kann man auch die Demonstrationen auf den Fabriken zu erklären.

Die Kommunisten haben sich an der aktuellen Präsidentschafts-Kampagne nicht beteiligt. Es formierte sich - aus objektiven und subjektiven Gründen - keine Linksbewegung in Belarus [42]. In den letzten zehn Jahren beschränkten sich praktische Schritte nur auf die Pflege eines "linken Youtube" Kanals.

Solche Allianzen, die die Unterstützung von ArbeitnehmerInnen nicht sichern konnten, werden zu einem nicht ernst zu nehmenden Treffpunkt oder zu einer starr zentralisierten Struktur - was in beiden Fällen zum gleichen beklagenswerten Ergebnis führt. In einem Land in dem es weder linke Parteien noch kämpferische Gewerkschaften gibt, verbinden einige “linke Politiker" den Aufstieg des Arbeiterbewusstsein mit der Machtübernahme neoliberaler, nationalistischer Kräfte. Offenbar gehen sie davon aus, dass die Linke Bewegung unter weitaus schlechteren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen mehr Aufmerksamkeit bekommt. Viktor Babariko hat bereits erklärt, dass er im Falle seines Sieges eine Reihe von Unternehmen schließen wird. Wie stehen die Chancen für erfolgreiche Streikorganisationen unter den Bedingungen von Arbeitslosigkeit, nationalistischem Druck, Massenmigration nach Russland und Polen?

Was hielt die Linke davon ab, während der Pandemie besondere Schutzmittel für Bedürftige bereitzustellen oder sich an der Wasserverteilung zu beteiligen, als sich in Minsk ein Unfall am Wasserkanal ereignete? All dies wurde von der Rechten getan [44], ohne die Propaganda zu vergessen. Der Fairness halber sei angemerkt: Die Linke Bewegung hat keine Sponsoren, es mangelt ihnen an Ressourcen, medialer Unterstützung, Initiative und Erfahrung. Infolgedessen nehmen sie am öffentlichen Leben kaum teil.

Nun, findet ein Putsch in Belarus statt? Ähnliche Proteste haben das Land schon früher erfasst: "stille Aktionen" jeden Mittwoch im Jahr 2011, gegen Kriminalisierung der Arbeitslosen - im Jahr 2017. Ähnliche Politiker wie Zepkalo und Babariko haben schon früher agitiert: Anatoli Lebedko, Andrej Sannikow und viele andere. Vertreter der Opposition begannen schon im Juni die Leute aufzufordern unmittelbar nach der Abstimmung zu protestieren. Die Regierung bereitete sich darauf vor, doch sie griff zu brutaler Gewalt, die von den Gegnern geschickt gegen sie eingesetzt wurde.

 

"Doch obwohl Lukaschenkas Opposition heute die höchsten Chancen seit 1994 hat, die Politisierung des Landes scheint nur vorübergehend zu sein und erinnert an die früheren, alle fünf Jahre stattfindenden Wahlkämpfe."

 

Infolgedessen hat sich die Situation dramatisch verändert, und es ist wichtig, zwischen denen zu unterscheiden, die in den letzten Tagen auf die Straße gegangen sind. Viele, darunter VertreterInnen von Arbeitskollektiven, LehrerInnen, ÄrzteInnen, ArbeiterInnen zahlreicher Industriebetriebe, widersetzen sich der Gewalt der Ordnungskräfte. Die Erklärungen der großen Gewerkschaften sind ebenfalls gegen Gewalt, fordern die Lustration aller Behörden und die Bestrafung der schuldigen Angestellten im Innenministerium. Doch obwohl Lukaschenkas Opposition heute die höchsten Chancen seit 1994 hat, die Politisierung des Landes scheint nur vorübergehend zu sein und erinnert an die früheren, alle fünf Jahre stattfindenden Wahlkämpfe.

 

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