PROFILE: BETTLER
Zur Kunst Andrea Büttners.
Andrea Büttner lässt die Wände der Kunstwelt bröckeln und deren unangenehme Wahrheit sichtbar werden: Die Kunstwelt ist eine Maschinerie, die von unendlicher Selbstevaluierung, moralischer Bewertung, Stress, Enthüllung, Misstrauen, Ohnmacht und Objektivierung angetrieben ist. Oder, um es sanft auszudrücken: Büttner befasst sich mit der Ikonographie und den allgemeinen Gefühlen der Moderne, und zeigt deren visuelle Kultur als eine der Scham. Davon wurde sie im Kontext der Kunst der 1990er Jahren überzeugt. Während dieser Zeit gab es eine typische Frage, mit der Studierenden zu dieser Zeit konfrontiert wurden: Wie legitimiere Ich meine Praxis? Büttner definiert diese Aufgabe als eine beschämende Frage.
In ihrer Ende 2020 bei Koenig Books veröffentlichten Dissertation “Shame” zeigt sie Scham zugleich als grundlegende Kraft der Kunst: das Schamhafte wird dem öffentlichen Blick dargelegt. Warum, fragt sie außerdem, weckt Armut Scham? Warum nicht Wut, wie noch vor hundert Jahren? In Dunkelheit, Schüchternheit, Unsichtbarkeit, Numinosität und Armut erkennt Büttner wie kein anderer Zwänge der zeitgenössischen Kultur. Deshalb baten wir sie, unsere Ausgabe zu Housing und Eviction, Gentrifizierung und Anti-Rassismus mit ihren Werkgruppen “Shepherds & Kings” (Hirte & Könige) und “Beggars” (Bettler) zu begleiten. Die Künstlerin tritt hinter zurück hinter ihrer Zusammenschau künstlerischer Thematisierungen von Armut aus Jahrhunderten.
Mit nonverbalen Artikulationen ist aber Büttner diejenige, die diesen Ambivalenzen menschlicher Existenz den klarsten Rahmen gibt. In unterschiedlichen Medien (Filme, Holzschnitte, Installationen) und Formulierungen (Gespräche, Archivarbeit, Zeichnungen) entstehen Spannungen zwischen inneren und äußeren Leben, sozialen und kulturellen Kontexten, Kameraeinstellungen und Körpersprachen. Es dreht sich alles um Gesten, Raster, Zeichen, die zeitlos bleiben in ihrer Lesbarkeit, wie die Gesten der Verbeugung (vor dem König), Verschleierung (der Macht), Stechens (von Spargel), oder Streckens der Hände (zum Empfang von Almosen). Ihre Schritte in die Abstraktion sind auch Schritte hin etwa zum Spargelstecher auf dem Feld. Ich habe neulich dieses Skizzenbuch auf ihrem Tisch gesehen, in dem sie die Gesten von Wanderarbeitern auf den Spargelfeldern von Beelitz festgehalten hat. Da war eine historisierende Distanz, aber da war auch Andrea, zwischen den Strichen, auf dem Feld. Sie berührte diese Menschen in Beelitz, auf ihre Art, so wie wenn auf dem Screen Kontaktspuren sichtbar werden.
Es ist nun so: In Auktionshäusern werden Bilder von Bettlern für Millionen versteigert, während keiner der Mitbietenden auf der Idee kommen würde, Menschen von der Straße zu holen und deren Leben zu bezahlen. Oder, wie Salvator Rosa 1690 in seiner Satire La Pittura schreibt, zitiert in Andrea Büttners Buch Beggars: “Those who would not give a denaro to a real beggar in rags and misery, now give hundreds of crowns for painted beggars”. Aus dieser Kluft bezieht Andrea Büttner ihre Dialektik gegenüber der Kunst. Ihre Abstraktionen von Bettlern sind Ausdruck von Sturz- und Gravitationspotential zwischen den Bildern und den Menschen, in dem eine szenische Situation, die gängige Vorstellungen wie Innen und Außen, Wahrnehmbares und Verborgenes umkehrt. So wie die Beziehung dieser Straßenzeitung zu allen, die sie definieren und verkaufen. Armut, Kunstgeschichte, Theologie und Politik der Mitmenschlichkeit werden hier befasst. In ihrer Verletzlichkeit und Würde.
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Read the original version of this piece in issue 14 "The Landlord is Coming."